Und am Ende des Dunkels wartet eine Fahrradstraße. Es ist kurz vor 23 Uhr an diesem Mittwoch, der Technische und Umweltausschuss der Stadt Konstanz tagt seit 16 Uhr im Bodenseeforum.
Es ist kalt, viele der Stadträte haben über ihre Sommerkleidung Jacken gezogen. Die Klimaanlage, heißt es, kann nicht wärmer eingestellt werden – wegen Corona.
Endlich: Die Fahrradstraße kommt, oder doch nicht?
Der Abend geht schon lange, die Nacht naht. Und die Stadträte haben noch keinen einzigen handfesten Beschluss gefasst.
Ja, sicher, es gab in diesen sieben Stunden Diskussionen, Vorstellungen von Konzepten, Zustimmung zu Strategien wie dem Parkraummanagement, es gab Willensbekundungen, Prüfaufträge für die Verwaltung. Aber ein handfester Beschluss über eine Sache, die nicht zehn Jahre in der Zukunft liegt, fehlt.
Und dann erscheint Gaffga
Bis das Gesicht des Radverkehrsbeauftragten Gregor Gaffga auf der Leinwand hinter Baubürgermeister und Sitzungsleiter Karl Langensteiner-Schönborn erscheint. „Der Herr Gaffga ist extra wach geblieben“, begrüßt der Baubürgermeister den via Internet zugeschalteten Mann.

Und dann stellt das junge, wache Gesicht die Pläne für die Verlängerung der Fahrradstraße im Paradies vor.
Erleichterung macht sich breit. Fast.
Fahrradstraßen! Das ist etwas, dem jeder im Technischen Ausschuss der Radstadt Konstanz zustimmen kann, oder? Etwas, mit dem man nach Hause gehen kann aus dieser Marathonsitzung und sagen: „Das haben wir heute beschlossen, das kommt nächstes Jahr.“ Für einen Moment fühlt es sich an, als mache sich Erleichterung unter den Räten breit.

Doch dann wird Gaffga konkret.
Bis Gaffga konkret wird. Die Fahrradstraße im Paradies endet bisher an der Schottenstraße. Nun soll sie, so der Plan, verlängert werden – und zwar über den Lutherplatz in die Schützenstraße bis zur Döbelestraße.

Klar, weiter geht nicht, weil doch irgendwann in der Zukunft am Döbele ein neues Wohnquartier und ein Parkhaus gebaut werden sollen.
Auch an die Fußgänger gedacht
Am Lutherplatz wurde im Konzept von Gaffga diesmal auch an die Fußgänger gedacht. Es soll eine Mittelinsel entstehen mit Querungshilfe. Soweit ist noch alles in Ordnung.
Keine Vorfahrt für die Radfahrer
Doch dann sagt Gaffga, dass die Radfahrer am Lutherplatz keine Vorfahrt haben werden. Wegen des Busses, der da auch lang fährt. Und dass 25 Anwohnerparkplätze wegfallen, weil die Fahrbahn Richtung Döbele zu schmal ist für eine Radstraße. Die Plätze sollen ersetzt werden. Perspektivisch. Zeitpunkt unbekannt.
Anne Mühlhäußer von der Freien Grünen Liste meldet sich zuerst. „Gut, dass es endlich in Angriff genommen wird.“ Aber: Schon bei der Kreuzung Schottenstraße/Gartenstraße habe man vergeblich um die Vorfahrt für die Radler gekämpft. „Hier schon wieder nicht!“

„Das macht keinen Sinn!“
Und Verena Faustein vom Jungen Forum fragt: „Was macht denn eine Fahrradstraße aus?“ Sie lacht: „Vorfahrt für Radfahrer natürlich! Das ergibt überhaupt keinen Sinn, das am Lutherplatz nicht zu machen. Ich beantrage Vorfahrt für die Radler. Sonst stimmen wir dem Antrag nicht zu.“ Die Sache mit dem Bus könnte man mit einer Ampel lösen.
Schön, aber ...
Daniel Groß von der CDU lobt die Idee, ja. Aber die Sache mit den Stellplätzen: „Wir haben uns doch schon unterhalten, dass erst Ausgleichsflächen für Anwohnerparkplätze geschaffen werden müssen, bevor man was wegnimmt. Wir finden die Idee nicht sehr geglückt.“
Die Stimmung ist irgendwie gekippt
Er schüttelt den Kopf. Die Stimmung ist irgendwie gekippt. Die Zustimmung zum Konzept des Radverkehrsbeauftragten scheint immer unwahrscheinlicher. Ob ihn das stört, ist nicht zu erkennen. Sein Gesicht ist auf der großen Leinwand eingefroren. Die Internet-Verbindung.
Ist der Zeitpunkt des Projekts sinnvoll?
Auch Jürgen Ruff von der SPD will Vorfahrt, Ampel und Bus. Sowohl am Lutherplatz als auch an der Gartenstraße. Nur: „Ist der Zeitpunkt des Projekts sinnvoll?“ Denn: Mit dem Großbauprojekt Döbele fielen schon 90 Parkplätze im Paradies weg.
Miteinander in Gefahr
„Das ist nicht gut für das Miteinander von Radfahrern und Anwohnern.“ Das wäre doch auch eine Idee: Erst das Großbauprojekt Döbele – irgendwann –, dann die Radstraße?
Da schaltet sich Stephan Fischer ein, Leiter Strategische Verkehrsplanung der Stadt. Er sichert zu: „Die Ampel wird deutlich teurer, aber wir schauen, dass wir das mit aufnehmen.“
Ja, Parkplätze könnten ersetzt werden
Und: „Ja, wir werden prüfen, ob wir Mietstellplätze für die Anwohner anbieten oder weitere öffentliche Plätze in Bewohnerparkplätze umwandeln können.“ Aber, so betont er: „Es geht hier um den Radverkehr.“
Fast schon zahm im Vergleich dazu:
Das sind fast schon zahme Worte verglichen mit dem, was in der Beschlussvorlage für die Stadträte steht. „Es gibt keinen Anspruch auf das Vorhandensein von Stellplätzen im Straßenraum“, heißt es da. „Mit der Verknappung des Stellplatzangebots soll erreicht werden, dass die Abschaffung des eigenen Fahrzeugs in Erwägung gezogen wird.“
Gerade so die Kurve gekriegt
Mit den Zusicherungen von Fischer stimmen die Stadträte dem Antrag zu. Die Radstraße soll kommen. Wenn alles glatt läuft, schon Ende 2021. Gerade so hat das Gremium noch die Kurve gekriegt.
Sind die Sorgen zu groß?
Doch: Sorgen sich die Stadträte zu sehr um den sozialen Frieden vor Ort? Ein Besuch am Lutherplatz. Rechts und links der Schützenstraße drängen sich die Autos, es ist kein einziger Parkplatz frei.
Dafür sind auf der Straße selbst so gut wie keine Pkw unterwegs. Nur Fahrradfahrer. Eine davon ist Maria Häuser.
Von der Schottenstraße kommend hält sie am Lutherplatz. Als sie von den Plänen der Stadt hört, freut sie sich. „Toll!“, sagt sie und radelt davon.
„Oh nein!“
Helga Basler hingegen, die wenige Minuten später an derselben Stelle mit dem Fahrrad Halt macht, ist entsetzt: „Oh nein!“, ruft sie aus, als sie hört, dass Radfahrer auch am Lutherplatz bald Vorfahrt haben könnten. Obwohl sie selbst Radlerin ist? „Ja, aber ich war auch Autofahrerin. Und wenn man an jedem Eck anhalten muss ... mir tun die Autofahrer leid.“
In der Schützenstraße tritt ein Mann aus einem der Häuser und an seinen Pkw. Er wohnt hier, sagt er. Seinen Namen will er aber nicht nennen. Denn: „Als Autofahrer in Konstanz hat man schlechte Karten. Ich fühle mich immer mehr, als müsste ich mich dafür schämen.“