Es ist eine Angst vieler Eltern. Ein 13 Jahre alter Junge und sein zehn Jahre alter Freund gehen im September 2019 im Kino des Einkaufszentrums Lago auf die Toilette. Dort treffen sie auf einen Mann, der sich im Schritt anfasst – und der den Älteren fragt, ob er nicht mitmachen wolle. Doch dieser lehnt das mit einem deutlichen Nein ab. Es folgt eine Anklage wegen sexuellen Missbrauchs vor dem Landgericht Konstanz.

Angeklagter: „Es ist mir peinlich, was ich gemacht habe“

„Es ist mir peinlich, was ich gemacht habe“, sagte der Angeklagte vor Gericht. Doch schnell wurde klar, dass er gar nicht versteht, warum seine Handlungen vom Dezember 2019 strafbar sind. Denn er hat keinen Bezug zu Zahlen.

Auf die Frage, ab welchem Alter er glaubt, dass das sexuelle Zusammenspiel erlaubt sei, mutmaßt er, dies sei mit 30 Jahren möglich. Genauso alt ist der Angeklagte, doch seine Empfindungen und Handlungen entsprechen denen eines Kindes.

Das könnte Sie auch interessieren

Vor dem Landgericht zeigt sich das Drama eines Behinderten, der seine Sexualität entdeckt, aber nicht weiß, wie er damit umgehen soll. Er hätte gern einen Freund in seinem Alter, sagt der Mann. Doch wie er diesen bekommen solle, wisse er nicht.

Dem Vorfall im Einkaufszentrum waren andere Ereignisse vorausgegangen, bei denen der Angeklagte Erwachsenen an die Geschlechtsteile fasste oder Kinder und Jugendliche ansprach. Doch niemals zuvor wurde ein Fall angezeigt und vor Gericht verhandelt.

Betreuerinnen schildern schwierige Familienverhältnisse

Eine Betreuerin berichtete als Zeugin, der Angeklagte habe immer wieder Erwachsene und Jugendliche angesprochen und unvermittelt gefragt, ob sie seine Freunde sein wollten. Auch die rechtliche Betreuerin sagte: Der Angeklagte sei unsicher darüber, was erlaubt sei und was nicht und wie er seine Sexualität ausleben könne.

Sie hätte es befürwortet, wenn dem Klienten ein entsprechender Berater zur Seite gestellt worden wäre. Doch dies sei vom Kostenträger abgelehnt worden. Stunden bei Pro Familia zum Thema Sexualität hatte er ebenfalls bereits besucht.

Das könnte Sie auch interessieren

Seine familiären Verhältnisse schilderten die Betreuerinnen als schwierig. Auch die Mutter habe Unterstützung benötigt. Ob der behinderte Mann möglicherweise selbst Opfer von Übergriffen wurde, blieb in der Verhandlung offen.

Die rechtliche Betreuerin sprach von einer „symbiotischen Beziehung“ zwischen Mutter und Sohn. Zu dem Vorfall im Lago war es gekommen, als der Angeklagte mit einer Gruppe eine Filmvorstellung besuchte und ohne Aufsicht zur Toilette gegangen war.

Sachverständiger: „Warum das verboten ist, versteht er nicht“

Der Sachverständige Jan Bulla, medizinischer Direktor am Zentrum für Psychiatrie Reichenau sowie Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, sagte, der Mann habe daheim gleichzeitig zu große Nähe und zu große Distanz erlebt. Erst ab dem 21. Lebensjahr sei er ins betreute Wohnen gekommen, seit 2014 in dem Heim in Konstanz.

In seiner emotionalen und sozialen Entwicklung entspreche er einem Zwei- bis Dreijährigen. Seine Intelligenz sei aufgrund eines Problems bei der Geburt mittelgradig gemindert. Im persönlichen Gespräch habe er den Beschuldigten als freundlich und zugewandt erlebt. Mit einfachen Worten könne sich dieser verständigen, aber zu abstrakteren Themen nichts sagen.

Das könnte Sie auch interessieren

„Er weiß schon, dass er etwas falsch gemacht hat. Aber warum das verboten ist, versteht er nicht“, sagte Bulla. Der Sachverständige schloss nicht aus, dass es auch künftig zu sexuellen Übergriffen kommen könnte. Sollte es keine Überwachung geben, seien auch schwerwiegendere Handlungen nicht ausgeschlossen.

Die in seinem Wohnheim getroffenen Schutzmaßnahmen müssten aber ausreichen, um schwere Übergriffe zu verhindern, so der Gutachter. Er befürwortet eine sexualpädagogische Begleitung. Medikamente, die den Sexualtrieb dämpfen, würde er nur als letztes Mittel einsetzen.

Staatsanwalt: Potenzial für weitere Übergriffe sei vorhanden

Der Staatsanwalt plädierte dennoch für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Diese sollte aber für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt werden. Das Potenzial für schwerwiegende Übergriffe sei vorhanden, wenn es an Aufsicht fehle, so der Staatsanwalt. Verteidiger Andreas Hennemann forderte dagegen einen Freispruch für seinen Mandanten. Es sei nicht klar, wer wen auf der Toilette angesprochen habe, und denkbar, dass der Angeklagte Äußerungen des Jungen als sexuelle Ermutigung missverstanden habe.

Hennemann fragte, ob Vorfälle wie das Ansprechen von Kindern nicht erst im Nachhinein in Verbindung mit sexuellen Anliegen gebracht wurden. Gehe in solchen Fällen tatsächlich eine Gefahr von seinem Mandaten aus, oder seien sie nur Ausdruck von Hilflosigkeit, fragte er. Auf der Skala der sexuellen Taten seien die des Beschuldigten weit unten angesiedelt.

Das könnte Sie auch interessieren

Die Jugendschutzkammer lehnte im Urteil eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ab. Der Vorsitzende Richter Joachim Dospil sagte, es bestehe zwar die Gefahr, dass es erneut zu sexuellen Übergriffen komme. Es gebe aber keine Anhaltspunkte für erhebliche Taten, die eine Unterbringung in einer solchen Einrichtung rechtfertigen würden.

Bisher habe der Angeklagte immer aufgehört, wenn man ihn aufforderte, eine Handlung sein zu lassen. Der Mann solle dort bleiben, wo er behütet lebe und sich nach eigenen Angaben wohl fühle. Das Landgericht empfahl am Dienstag in der Urteilsverkündung allerdings eine sexualpädagogische Begleitung.