Morgens, 9 Uhr. Auf dem Münsterplatz, wenn man in Richtung Stadttheater Konstanz geht, wartet hinter roten Türen die Stille. Das Haus der Pallottiner signalisiert seit 7 Uhr mit einer Kerze, dass es öffentlich zugänglich ist. Dreimal wöchentlich kann hier jeder sitzen.

In der Mitte des Andachtsraumes ein schwerer Mühlstein, die Viertelstunden werden von den dumpfen Glocken des Münsterturmes angeschlagen, zumindest akustisch ist man so dem Himmel nahe, ansonsten sind nur gedämpfte Geräusche von der Straße zu hören. Stille breitet sich um einen und in einem aus.

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Seit September 2017 gibt es dieses Angebot. Pater Fritz Kretz und Pater Reinhold Maise hatten die Idee und belebten so das Kloster neu, das kurz vor der Schließung stand. „Wir wollten ein geistliches und spirituelles Zentrum mitten in der Stadt schaffen, für jeden offen“, so der 69-jährige Kretz. Im Rahmen der damals stattfindenden Woche der Stille, die Phillipp Gärtner organisierte, stellte man sich der Öffentlichkeit vor.

Das 2010 auf dem Münsterplatz aufgestellte Altstadtrelief, eine Arbeit des Künstlers Egbert Broerken in Bronze.
Das 2010 auf dem Münsterplatz aufgestellte Altstadtrelief, eine Arbeit des Künstlers Egbert Broerken in Bronze. | Bild: Michael Buchmüller

Ingeborg Lauer (75) ist seit Anfang an dabei. Sie sucht hier Abstand aus dem Getriebe des Alltages. Um tiefer zu kommen. Zum Wesentlichen. „Die Gemäuer strahlen Ruhe und Beständigkeit aus.“ Auch Pater Kretz schätzt das. „Das ist wirklich meine Form des Betens geworden. Aus der Stille erfahre ich die Impulse für mein Leben, für meine Arbeit.“ Er habe viel die Welt bereist, hier sei angekommen. Das sei sein Platz, von dem er nicht mehr wegwolle.

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„Vita contemplativa“ (Innere Einkehr) und „vita activa“ (hinausgehendes, aktives Leben) gibt es zumindest auch zu sehen in der Sankt-Johann-Gasse. Stadtführer Daniel Groß zeigt auf die sogenannten Weberfresken, eine Wandmalerei vom Anfang des 14. Jahrhunderts. Gut erhalten haben sie hinter einer Holzwand verborgen die Jahrhunderte im Haus zur Kunkel überdauert. Die Tätigkeiten der Weberinnen werden in vielen Bildern genauestens gezeigt.

Bild 2: Wie lebt es sich in Konstanz am Münsterplatz? Hier gibt es ruhige, versteckte Ecken inmitten des Trubels eines Touristenmagnets
Bild: Michael Buchmüller

Das Zetteln, Haspeln, Spinnen, alles Begriffe, die auch in deutsche Redewendungen Eingang gefunden haben. Ein vermögendes Vater-Sohn-Gespann, Ärzte und Geistliche, haben sich wohl diese Wände bemalen lassen, als Ausdruck für die zwei grundlegenden Lebensformen: Das In-Sich-Zurückziehen und im geistlichen Innenraum leben und das In-Die Welt-Gehen, so wie es Parzival, der Gralsritter machte, aus dessen Leben Motive auf der gegenüberliegenden Wand zu sehen sind.

Zurück auf dem Platz: Gegenüber am Zaun der Freilichtbühne des Stadttheaters sitzt ein bärtiger Mann, in sich versunken. Hinter ihm wird „Viel Lärm um nichts“ gemacht – oder jedenfalls dafür geprobt. Das stört ihn aber nicht, fast täglich sieht man ihn dort sitzen, stundenlang. Aber sich ansprechen lassen, das will er nicht.

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Auch nicht mehr weg vom Münsterplatz will Joachim Demuth, Geschäftsführer des Wessenberg-Cafès, der dort nun schon 16 Jahre arbeitet. Anfangs als Aushilfe, dann fest angestellt, nun in leitender Funktion. „Das Beste, was einem passieren kann: Ein Lokal in so einer Lage.“

Joachim Demuth, Geschäftsführer des Wessenberg.
Joachim Demuth, Geschäftsführer des Wessenberg. | Bild: Michael Buchmüller

Die alten Gemäuer, verbunden mit dem Beton und dem Glas der Stadtbibliothek, der große Innenhof, über den eine Segelkonstruktion gespannt ist, begrünt mit Palmen- und Pflanzenkübeln, die ihnen die Stadtgärtnerei zur Verfügung stellt – das alles mache den Ort zu einer Oase, in die viele einkehren, um „runterzukommen und sich zu treffen“.

Da seien die Teilnehmer von Volkshochschulkursen, die nach dem Spanischkurs durch den Hintereingang direkt zu ihren Stammplätzen kämen, da seien die Stadtführer, die oft Gruppen hereinführten. Und am Samstagnachmittag schwappen die Lago-Besucher herüber, um nach dem Shopping noch zu essen oder Kaffee zu trinken. Nein, er wolle hier nicht mehr weg, das sei – definitiv – sein Platz, den er für sich gefunden habe.

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Nebenan im zweiten Stock schaut Ulrike Horn vom Infopoint der Stadtbibliothek an Beton und Glas vorbei aufs Münster. Sie ist Leiterin dieses „öffentlichen Wohnzimmers der Stadt“, so nennt sie „ihre“ Bibliothek. Vor Corona 200.000 Besucher pro Jahr, durch alle soziale Schichten, wie sie stolz betont. „Wir sind offen für jeden!“

Ulrike Horn, Leiterin der Stadtbibliothek Konstanz.
Ulrike Horn, Leiterin der Stadtbibliothek Konstanz. | Bild: Michael Buchmüller

In den vergangenen fünf Jahren habe sie viel dafür getan, dass man sich in den Räumen aufhalten könne, und das werde angenommen. Die Atmosphäre am Platz sei für sie ganz besonders. Sie ist Konstanzerin, und die Großmutter habe über den Münsterplatz, auf dem es ja oft windig zugeht, schon gesagt: „Hier weht der Heilige Geist!“ In den gotischen Formen der Kirche spüre sie etwas Beruhigendes, Beständiges, etwas, was die Zeiten überdauert.

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Natürlich muss auch das Münster betreten werden. Vieles gebe es hier zu sagen. Nur eines: In einer Seitenkapelle zur Linken sitzt ein lebensgroßer, müde wirkender Jesus aus Holz mit Dornenkrone, so als sei er völlig erschöpft von seinem Einsatz für das Reich Gottes. Und auf den Turm geht es – trotz Sperrung – hinauf, weil Aushilfs-Mesner Ottmar Zoll den Reporter freundlicherweise begleitet.

Bild 5: Wie lebt es sich in Konstanz am Münsterplatz? Hier gibt es ruhige, versteckte Ecken inmitten des Trubels eines Touristenmagnets
Bild: Michael Buchmüller

192 Stufen bis zur ersten Plattform. Vorbei an den Glocken, der Ursula (sieben Tonnen) und der Marienglocke (8,3), insgesamt 19 hängen hier oben, damit hat Konstanz das zweitgrößte Geläut in Deutschland. Der Blick von oben über ein Mosaik von Hausdächern und Dachgärten und steil hinunter auf den Münsterplatz, halb im Schatten des mächtigen Turms.

Die Kirche verlassend, rechts hinaus: der Pfalzgarten. Ein Schild markiert, dass hier der Jakobsweg vorbei geht. Noch 2340 Kilometer bis Santiago de Compostella. Das geht doch. Oft stehen die Pilger dort und knipsen ein Foto. (Den Stempel dazu gibt es im Kircheninneren am Schriftenstand.) Der Platz war im Mittelalter das Zentrum der Stadt.

Bild 6: Wie lebt es sich in Konstanz am Münsterplatz? Hier gibt es ruhige, versteckte Ecken inmitten des Trubels eines Touristenmagnets
Bild: Michael Buchmüller

Heute liegt er fast etwas abseits, hauptsächlich besucht von Familien, die mit ihren Kindern den schattigen Spielplatz am Rand aufsuchen, ein etwas karger Kiesplatz mit drei Bänken und der Mariensäule in der Mitte. Montags nehmen die Obdachlosen und Bedürftigen am Fenster des Pfarrbüros Gutscheine entgegen. Und dieses Jahr, als so viel Schnee lag, sind sogar einige Kinder zwischen dem Haus und dem Münster den kleinen Hang „Zur Staffel“ hinuntergerodelt.

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Viele Menschen wohnen nicht rund ums Münster. Das meiste sind Rechtsanwaltskanzleien oder Arztpraxen, dazwischen einige Privatwohnungen. Dann die Gastronomie wie Münsterhof und Selin, die auch den Platz bestuhlen. An exponierter Stelle die alteingesessene Buchhandlung Homburger und Hepp.

Gegen zwölf ist der Platz von Einheimischen und Touristen bevölkert. Auch der Bärtige sitzt immer noch vor dem Theaterzaun. Der einzige Satz, der ihm zu entlocken ist: „Ich habe mich für diesen Platz entschieden!“ Der Münsterplatz lädt jeden zum Bleiben ein. Solange er will. Denn er hat Zeit. Vielleicht ist er sogar zeit-los.

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