Eine persönliche Frage an Sie, Herr Albilia: Wie hat sich Ihr Leben seit dem 7. Oktober 2023 verändert?
Gabriel Albilia: Eine große Frage! Es hat sich enorm verändert. Bis dahin lebten wir in einer „Bubble“, an einem ruhigen Ort. Ich bin 2006 nach Deutschland gekommen, wegen des Kriegs zwischen Israel und dem Libanon. Ich wohnte dort an der Grenze und hatte zwei Kinder. Für mich war es unerträglich, dass sie Zeit in einem Bunker verbringen mussten.
Deswegen bin ich mit meiner Frau, die deutscher Herkunft ist, nach Deutschland gekommen. Wir haben ein ruhiges Leben gesucht und gefunden. Lange Zeit lebten wir hier mit Informationen aus dem Nahen Osten, dass es nicht immer leicht war, aber nicht so dramatisch. Seit dem 7. Oktober sind wir zerstört. Freunde sind entführt worden. Kinder meiner Schulkameraden wurden am ersten Kriegstag umgebracht.
Wie steht es um den Schulweg Ihrer Kinder, Ihr Gefühl, wenn Sie in Konstanz auf der Straße unterwegs sind?
Albilia: Mein Auto steht immer auf demselben Parkplatz. In den letzten zwei Wochen wird es ständig bespuckt, mit Müll, mit Resten von Essen beworfen. Also kennt jemand mein Auto. Ich habe das bei der Polizei angezeigt, aber es ist schwierig herauszufinden, wer das macht. Das ist keine direkte Gewalttat, aber ein Zeichen, dass jemand mit der Situation unzufrieden ist.

Wir springen mal zu Manuel Oestringer: Seit wann engagieren Sie sich für Rettet Gaza, wie kam es dazu? Und was hat das mit dem Klimaschutz zu tun?
Oestringer: Unsere erste Mahnwache war im Dezember 2023. Seitdem gibt‘s die Gruppe „Rettet Gaza“. Es gibt Mahnwachen, Demos, andere Veranstaltungen. Wie kam es dazu? Ich fand es schrecklich, jeden Tag von einem neuen Massaker in Gaza zu hören. Die Lage ist eskaliert, und ich finde, Deutschland trägt eine Mitschuld, indem es Waffen an Israel liefert. Ich glaube, dass sich Deutschlands Außenpolitik gravierend ändern muss. Deshalb habe ich begonnen, Demonstrationen zu organisieren.
Mittlerweile sind sehr viele Palästinenser in unserer Gruppe. Neulich kam jemand und sagte, dass am Wochenende gerade neun Mitglieder seiner Familie in Gaza starben. Mittlerweile ist der Bezug zum Thema persönlicher geworden. Was das alles mit Klimaschutz zu tun hat? Wir haben ein riesiges globales Problem, die Klimakrise, an dem wir weltweit zusammenarbeiten müssen. Solang wir Krieg gegeneinander führen, wird es nicht möglich sein, diesen Fokus auf das Klima zu lenken. Wenn die ölreichste Region der Welt in Flammen aufgeht, liegt die Aufmerksamkeit auf anderen Themen.

Herr Albilia, Sie wollten bei den Worten Massaker einhaken.
Albilia: Ja. Bei Worten wie Massaker oder Völkermord sollte man die Geschichte richtig anschauen. Ich habe Freunde unter Palästinensern und ich komme mit ihnen super klar, auch ich habe meine eigene Meinung über Israels Politik. Ich stimme nicht allem zu, was in Israel passiert. Etwa, dass unschuldige Menschen ums Leben kommen. Aber es gibt weltweit wenige Armeen wie die IDF (Israel Defence Force), die versucht, so human wie möglich vorzugehen. Israel unternimmt Maßnahmen, um die Hamas zu zerstören.
Ich sage nicht, dass das palästinensische Volk nicht darunter leidet. Die Hamas ist in Gaza groß geworden. Diese Schuld trägt das palästinensische Volk mit. Israel hat keine Macht in Gaza. Seit 2005 hat die Hamas dort ihre Infrastruktur ausgebaut. Wir wollen auch ein freies Gaza, nicht frei von Palästinensern, sondern von der Hamas und Terroristen. Deswegen ist es sehr problematisch, das Wort Völkermord zu verwenden. Vor jedem israelischen Angriff wurde die Bevölkerung von Gaza informiert: Es kommt ein Angriff.
Distanziert sich „Rettet Gaza“ ausreichend von der Hamas?
Oestringer: Wir haben uns vom Geschehen des 7. Oktober distanziert, ich habe mehrfach verurteilt, dass damals Zivilisten angegriffen wurden. Natürlich war das ein Terrorangriff. Natürlich sind dabei Zivilisten gestorben und das ist ein Kriegsverbrechen. Seitdem sind aber zwischen 40.000 und 100.000 Zivilisten in Gaza gestorben.
Albilia: Das stimmt so nicht. Die Zahlen sind so nicht richtig.
Oestringer: Wir können die Zahlen gerne diskutieren. Ich hab einen Brief dabei von 100 Ärzten aus den USA, die im Gazastreifen waren. Sie legen dar, dass mindestens 118.000 Menschen in Gaza tot sind. Israel bombardiert gezielt zivile Infrastruktur in Gaza, dafür gibt es Beweise. Es gibt Bombenanalysen, die zeigen, ganz Gaza wird bombardiert, wir finden eine Konzentration von Bombardements um Krankenhäuser, Schulen, Moscheen. Es gibt UN-Experten, die sagen, hier wird gezielt Infrastruktur zerstört. Bäckereien, Wasseraufbereitungsanlagen, Sanitäranlagen, Krankenhäuser. Zudem gibt es Aussagen von israelischen Politikern, die sehr frei darüber reden, dass es in Gaza keine unschuldigen Menschen gebe, dass es keine Zivilisten in Gaza gebe. Also neulich hat ein israelischer Analyst gesagt...
Albilia: Das sind Extremisten, die so etwas sagen. Diese gibt es überall. Ihnen schließe ich mich nicht an...
Wie geht es Ihnen denn, wenn Sie auf das Vorgehen im Gazastreifen schauen? Die Bilder gibt es ja und die Toten auch. Es sind wahnsinnig viele Menschen gestorben...
Albilia: Es geht mir beschissen, wenn ich sehe, dass Kinder gestorben sind, egal ob diese Muslime sind, Christen, Buddhisten oder Juden. Denken Sie, es freut mich, wenn ich höre, dass Kinder getroffen wurden? Ein Krieg ist ein Krieg. Und dieser Krieg hat nicht angefangen, weil Israel darauf Lust hatte. Israel wurde am 7. Oktober mit einem Massaker angegriffen. Ich sage Ihnen, was ein Massaker ist. 1200 Jugendliche, die ein Konzert feiern und dann kommt eine Gruppe, die mordet, ohne darauf zu achten, wer Militär, wer Polizei, wer eine junge Frau, wer ein alter Mann ist. Das ist ein Massaker. Und ich hoffe, dass dieser Krieg schnell endet.
Oestringer: Nach UN-Recht gilt Gaza wie das Westjordanland als besetztes Gebiet, da Israel die Außengrenze Gazas komplett abriegelt. Israel hat eine Verpflichtung, diese Besatzung zu beenden, bei Gaza heißt das: die Blockade zu beenden. Und dieser Verpflichtung kommt es nicht nach. Es gibt keine Hinweise, dass sich Israel mit seinen Angriffen auf militärische Hamas Einrichtungen beschränkt. Wir sehen kaum Tunnelkämpfe. Wir sehen Angriffe auf Krankenhäuser und andere zivile Infrastruktur. Es gibt sogenannte sichere humanitäre Zonen, in die die Bevölkerung flieht. Die meisten Menschen in Gaza haben schon fünf bis zehnmal ihren Wohnort geräumt, und auch diese humanitären Zonen werden regelmäßig bombardiert. Das passiert dauernd und deshalb rede ich von Massaker.
Albilia: Haben Sie Beweise dafür? Dann zeigen Sie die. Das will ich sehen.
Oestringer: Zur Bombardierung des Al-Malwasi Flüchtlingslager gab es Untersuchungen. Aber es gibt noch mehr dokumentierte Fälle...
Albilia: Und es gab eine offizielle Erklärung der israelischen Armee, in der gesagt wurde, das war ein Fehler. Das ist aus Versehen passiert. Was jetzt in Israel passiert, ist ein Krieg. Und ich bin gegen diesen Krieg, das müssen sie schon auch gut hören.
Oestringer: Dieser Krieg ist deutlich, deutlich tödlicher für Zivilisten, als alle anderen Kriege der vergangenen Jahrzehnte. Es sind deutlich mehr Kinder gestorben. Und deshalb ist es eben kein normaler Krieg, wie wir beobachten, obwohl normaler Krieg auch schon absolut schrecklich wäre. Der andere Punkt: Ich finde es sehr gut, dass Sie auch für Frieden sind, weil wir dann ja einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt haben. Unsere Kernforderung ist, dass wir einen Waffenstillstand brauchen, unverzüglich.
Ein Unterschied zu anderen Kriegen ist: Wo soll die palästinensische Zivilbevölkerung hin? Die Menschen in Gaza haben einen kleinen territorialen Streifen, wo sie sich bewegen können.
Albilia: Ich kann nicht beantworten, wo die Palästinenser, 2,2 Millionen in Gaza, hingehen sollen. Es ist kein so kleines Gebiet, wie man denkt. In den Städten ist es sehr eng, außerhalb gibt es genug Platz. Bei einer Bevölkerung von 2,2 Millionen Menschen, in der 1,1 Millionen Kinder leben, sind diese natürlich stärker betroffen.
Wir wüssten von Ihnen beiden gerne, wie eine Lösung des Konflikts aussehen könnte?
Albilia: Mich interessiert ein weiterer Punkt. Wenn die deutsche Regierung Israel nicht unterstützen würde, wären Sie trotzdem auf die Straße gegangen? Fühlen Sie sich damit verknüpft, weil Sie Deutscher sind? Deutschland unterstützt Israel...
Oestringer: Sie meinen, wenn die deutsche Regierung gar nicht involviert wäre? Dann wäre es schrecklich anzusehen, aber ich wäre nicht auf die Straße gegangen, weil ich keinen Sinn sehe, in Deutschland zu sitzen und die israelische Regierung oder die Hamas zu kritisieren. In der deutschen Regierung habe ich einen Adressaten, an den sich die politische Forderung richtet.
Albilia: Das finde ich schmerzvoll zu hören. Ich werde auf die Straße gehen, egal, was passiert. Egal, ob Deutschland involviert ist oder nicht. Ich werde gegen unschuldig umgebrachte Menschen immer auf die Straße gehen. Es gibt Menschenrechte und dafür muss man kämpfen.
Wie sieht denn aus Ihrer Sicht die Verpflichtung Deutschlands gegenüber Israel aus? Hat Deutschland eine historische Verantwortung?
Oestringer: Deutschland steht gerade vor Gericht, wegen Beihilfe zum Völkermord. Diese Anschuldigung steht zumindest im Raum. Deutschland überbietet sich regelmäßig damit zu betonen, wie viel Waffen es an Israel liefert. Deutschland trägt also eine große Verantwortung. In der aktuellen Situation sollte Deutschland ein Waffenembargo gegen Israel verhängen.
Wir hatten vorhin von der Distanzierung von der Hamas gesprochen. Jetzt hört man in ganz Deutschland immer wieder Sprüche wie “From the River to the sea“. Wie beurteilen Sie das?
Oestringer: „From the River to the Sea“ heißt, dass im ganzen Gebiet des historischen Palästinas Menschen frei von Unterdrückung leben sollen, so verstehen alle, die ich kenne, diesen Spruch. Mit dieser Bedeutung habe ich kein Problem damit.
Das Wort Palästina ist im heutigen kulturellen Kontext sehr stark mit einer muslimischen Bevölkerung verknüpft.
Oestringer: Es ist schon klar, dass in dem Gebiet Menschen verschiedener Religionen leben und verschiedener Herkunft. Viele Menschen teilen diese Sicht. In diesem Gebiet sollten alle Menschen gleiche Rechte genießen.
Albilia: Im Moment gibt es kein Palästina. Palästina gab es nie als Staat. Auch vor 1948, gab es nun Kenan (unter britischem Mandat). Seitdem gibt es Israel. Israel wurde von der UN an das jüdische Volk gegeben. „Free Palestine – From the River to the Sea“, Sie sagen das in schönen Worten. Aber nein. Der Satz „Palestine will be free“ soll heißen, es soll frei sein von jüdischen Menschen. Und das ist ein Aufruf zum Völkermord. Lassen Sie uns ein Treffen vereinbaren. Kommen Sie vorbei und ich zeige Ihnen über meine Quellen, was damit gemeint ist.
Könnten Sie beide nochmals etwas sagen zu einer möglichen Lösung des Konflikts.
Albilia: Eine Lösung in meinen Augen ist, wenn beide Seiten in Frieden und in Ruhe leben können. Solange in Palästina, im Libanon und den arabischen Ländern rund um Israel Regierungen an der Macht sind, die Israel eliminieren wollen, wird das nicht möglich sein. Es ist die Pflicht der israelischen Regierung wie der arabischen befreundeten Länder, den Terror zu bekämpfen. Mit dem IS ist es das Gleiche.
Lange sind die Terroristen aus ihren Ländern nicht herausgekommen und alles war still. Wenn es dann andere Länder betrifft, ist plötzlich die ganze Welt wach. Und die Hamas in Gaza hatte so wenig Kraft, als Israel das Gebiet verlassen hat. Heute aber ist sie eine der stärksten Organisationen. Als der Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah eliminiert wurde, waren alle erleichtert. In Israel und im Libanon.
Wie sollte man aus Ihrer Sicht, Herr Oestringer, mit der Lage umgehen?
Oestringer: Es braucht sofort einen permanenten Waffenstillstand. Zuerst mindestens sechs Wochen Feuerpause, die sich dann ausweitet. In diesen Wochen werden alle Geiseln ausgetauscht. Die drei Kernforderungen der Hamas: Geiselaustausch, Waffenstillstand und ein Ende der Blockade. Die Hisbollah sagt, dass sie aufhören werden, Israel anzugreifen, sobald es einen Waffenstillstand in Gaza gibt.
Trauen Sie der Hamas über den Weg?
Oestringer: Traue ich der Hamas? Traue ich Israel? Ich traue beiden Seiten nicht über den Weg. Aber das ist der beste Plan, mit dem wir momentan arbeiten können. Wir stehen kurz davor, dass wir einen offenen Krieg im ganzen Nahen Osten haben. Dann wird die ganze Weltwirtschaft in Flammen aufgehen. Wir brauchen jetzt einen Waffenstillstand. Die Situation ist sehr ernst.
Können Sie noch etwas zum Existenzrecht Israels sagen? Es steht in der deutschen Verfassung.
Oestringer: Ich bin der Meinung, dass alle Menschen in der Region ohne Unterdrückung leben müssen. Es gibt diese zwei Versionen, die dabei diskutiert werden: Zwei-Staaten-Lösung oder ein-Staaten-Lösung. Also ein Staat, in dem alle Menschen unabhängig von der Religion gleiche Rechte haben. Ich muss hier nicht entscheiden, ob eine Ein-Staaten-Lösung oder eine Zwei-Staaten-Lösung besser ist. Momentan wirkt beides unwahrscheinlich.