Es geschah am 21. Juni 1943: In der Nacht wurde damals der heutige Radolfzeller Ortsteil Liggeringen von der britischen Royal Air Force angegriffen, acht Menschen wurden getötet und 20 weitere verletzt. Zudem wurden acht Häuser durch eine Bombe, die direkt auf die Hauptstraße fiel, total zerstört, 25 weitere stark und 50 leicht beschädigt. Der Ort litt lange noch unter den Folgen des Angriffs.
Nun wurde mit einer Präsentation der neuesten Erkenntnisse aus der Geschichtsforschung der Folgen des Bombardements auf Liggeringen gedacht. Bei der Gedenkfeier in der bis auf den letzten Platz ausgefüllten Torkel erfuhren rund 150 Besucher, was sich damals wohl tatsächlich zugetragen hat. Warum gerade Liggeringen durch Bomben der englischen Luftwaffe beschädigt wurde, war nämlich bislang unklar. In vielen Niederschriften und der Ortschronik zu dem tragischen Ereignis hieß es bisher „aus völlig ungeklärten Gründen“. Das hat nun wohl dank des stellvertretenden Ortsvorstehers und Konstanzer Stadtarchivars Jürgen Klöckler ein Ende.

Briten mussten fliehen und leichter werden
Laut seinen Erkenntnissen ist die Bombardierung das Ergebnis tragischer Zufälle, die sich in dieser Nacht ereignet haben. Seine intensiven Nachforschungen, die nach eigenem Bekunden gegenüber dem SÜDKURIER erst durch die modernen Möglichkeiten des Internets möglich waren, handelte es sich um das Flugzeugs eines britischen Oberkommandanten, der eine alliierte Bomberoffensive zum Angriff auf Friedrichshafen führen sollte.
Mit der dort beheimateten Zeppelin GmbH landete das Rüstungszentrum Friedrichshafen auf Platz zehn der englischen Prioritätenliste. Die insgesamt 60 Lancaster-Maschinen hatten sich vom mittelenglischen Scampton auf den Weg über Nordfrankreich und den Elsass zum Bodensee aufgemacht. 59 Maschinen erreichten gegen 2 Uhr bei sternenklarer Nacht den Sammelpunkt über Espasingen. Nur eine Lancaster fehlte – ausgerechnet die des Captain Leonard Cain Slee, der laut Jürgen Klöckler den Angriff auf Friedrichshafen in seinem „Master Bomber“, wie das Flugzeug von der deutschen Flugabwehr Zeremonienmeister genannt wurde, koordinieren sollte.

Liggeringen lag wie auf Präsentierteller
Wie die Nachforschungen ergeben haben, wurde sein Flugzeug bereits über Frankreich beschossen und beschädigt, sodass er zu spät am Sammlungspunkt eintraf. Er übergab das Kommando an seinen Stellvertreter, während der zweite Motor an der Maschine Feuer fing. Damit waren er und sein Pilot laut Klöcklers Forschungen gezwungen, die Bombenlast abzuwerfen, um anschließend über die neutrale Schweiz nach Afrika zu entkommen.
Liggeringen selbst lag auf dem Weg dahin in der mondhellen Nacht wie auf dem Präsentierteller. Nach mehreren Umkreisungen habe Leonard Cain Slee gegen 2.45 Uhr die Bombenlast abgeworfen. „Alle Nachkriegslegenden um Licht, das im Dorf angeblich gebrannt haben soll, sind damit endgültig widerlegt“, fasste Jürgen Klöckler abschließend zusammen.
Zeitzeugen erinnern sich an Rauch, Staub, Tote
Die Nachkriegslegenden kennen die letzten noch lebenden Zeitzeugen noch aus ihrer eigenen Erfahrung. So gehört auch Wilderich Graf von und zu Bodman zu jenen Schaulustigen, die am Folgetag aus Radolfzell, Konstanz und der Umgebung nach Liggeringen kamen, um die Schäden in Augenschein zu nehmen. „Es roch nach Rauch und Staub“, erinnerte er sich an sein sechstes Lebensjahr zurück, als er an der Hand seiner Mutter „selbst zu den Gaffern gehörte“, wie er bemerkte.

Auch Willi Mautz vom Hirtenhof oberhalb des Mindelsees kam als Sechsjähriger am nächsten Tag in den Ort und schilderte am Gedenktag seine Erinnerungen, zu denen tote Tiere und viel Schutt gehörten. Nicht zuletzt weil die letzten Zeitzeugen immer weniger werden, ist die Veranstaltung an den Luftangriff nach Ansicht von Jürgen Klöckler wichtiger denn je. Zumal derzeit mit dem Ukrainekrieg auch wieder ein Krieg in Europa tobt. „Der Zweite Weltkrieg entschwindet derzeit aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Das gilt es zu verhindern“, sagte Klöckler abschließend.