Für viele Menschen markiert der 26. April 1986 ein denkwürdiges Ereignis, nach dem die Welt nicht mehr so war wie zuvor. An dem Tag ereignete sich der Reaktorunfall im Block vier des Kernkraftwerkes in Tschernobyl.
Eigentlich sollte an diesem Tag nur eine Simulation eines vollständigen Stromausfalls abgewickelt werden, doch daraus erwuchs die größte Reaktorkatastrophe, die es bisher gegeben hatte. Es kam zu einem unkontrollierten Temperaturanstieg in dem Reaktor. Dann kam die Explosion.
In Deutschland ist der Süden besonders stark betroffen
In deren Folge wurden mehrere Trillionen Becquerel Radioaktivität in die Erdatmosphäre freigesetzt. Durch den Wind gelangten die radioaktiven Stoffe in viele Länder Europas.
Innerhalb von Deutschland war vor allem der süddeutsche Raum betroffen. Besonders belastet waren Regionen, in denen Regen niederging. Er transportierte die radioaktiven Stoffe wie Caesium 137 in die Böden. Dieser Stoff hat eine Halbwertszeit von rund 30 Jahren.
Folien mussten als Sondermüll entsorgt werden
Für die Gemüsebauern auf der Höri hatte der atomare Unfall konkrete Folgen. Sie sollten ihre Folien, mit denen sie Gemüse und Salat auf ihren Äckern abdeckten, entsorgen.
„Untersuchungen von Folien aus dem Gemüsebau durch die Universität Konstanz haben ergeben, dass eine weitere Verwendung derjenigen Folien nicht empfohlen werden kann, die am 29. und 30. April im Freien lagen“, heißt es im damaligen SÜDKURIER-Bericht des Reporters Sigmund Kopitzki.
Wolfgang Habel vom Landratsamt Konstanz habe an die Gemüsebauern und Hobbygärtner die Bitte gerichtet, entsprechend verstrahlte Folien nicht mit dem Hausmüll mitzugeben. Sie sollten auf die Deponien in Rickelshausen bei Böhringen und Bettenberg in Konstanz geschafft werden. Gleiches galt für geschnittenes Gras.
Mit dem Regen kam das Caesium
Genau an dieses Ereignis kann sich auch der damalige Gemüsebau-Landwirt Werner Glaser aus Iznang noch gut erinnern. „Zwei bis drei Tage nach der Katastrophe hieß es, dass mit dem Regen das Caesium kommt“, berichtet er.
Bei vielen überstieg das die Vorstellungskraft: „Wir konnten gar nicht verstehen, dass etwas vom Himmel kommt, das man weder riechen noch sehen konnte und unser Gemüse unbrauchbar machte“, erinnert er sich weiter. Aber genau das war der Fall.

Praktisch sämtliches Freilandgemüse war nicht mehr zu gebrauchen. Der Verkauf wurde sogar untersagt. So mancher Gemüsebauer der Reichenau soll noch versucht haben, seine Bestände schnell in die Schweiz zu verkaufen, munkelte man damals.
Prüfer mit Geigerzähler unterwegs
Auf dem Wochenmarkt in Villingen-Schwenningen, wo die Familie Glaser einen Stand hatte, rückten Prüfer mit einem Geigerzähler an. Auf den Äckern der vorderen Höri waren zu dieser Zeit „vor allem Kulturen wie Lauch und Wirsing von der Verseuchung durch das Caesium betroffen“, berichtet Werner Glaser.
Im weiteren Verlauf des Jahres durfte das Wintergemüse ebenfalls nicht in den Verkauf gebracht werden. Immerhin erhielten die Landwirte eine Entschädigung durch den Bund. „Da war der Staat das erste Mal großzügig“, erinnert sich Glaser.
Zweigeteilte Bevölkerung
Die Stimmung war nach Beobachtung von Werner Glaser damals eine zweigeteilte in der Bevölkerung. „Es gab die Pessimisten und die Optimisten. Das ist ein bisschen zu vergleichen mit Corona“, sagt er. „Manche haben richtig Angst gehabt. Ich selbst habe mir ehrlich gesagt nicht viele Sorgen gemacht“, berichtet er weiter.
Der Alltag der Landwirte musste ja auch weitergehen. Gleiches gilt für alle anderen Menschen. „Die Leute mussten trotzdem weiter essen“, sagt er. Allerdings änderten sich die Gewohnheiten zumindest vorübergehend erheblich.
Umsatz bricht ein
Der Umsatz selbst von freigegebenen Milchprodukten, Obst und Gemüse ging drastisch zurück. So manche Lebensmittelkette musste Lebensmittel im Wert von mehreren Millionen D-Mark vernichten.
Noch heute sind bestimmte Lebensmittel aus dem Freiland radioaktiv belastet. Insbesondere in Pilzen reichern sich die radioaktiven Stoffe an und können so immer noch bedenkliche Werte aufweisen.

Gleiches gilt für das Fleisch von Wildtieren. Da sie sich unter anderem von Pilzen und anderen Pflanzen im Wald ernähren, ist auch das Fleisch weiterhin mit langsam zerfallenden Spaltprodukten verseucht.
Politische Folgen
Auch politisch hatte das Ereignis umwälzende Folgen. Der damalige Zentralsekretär des ZK in der KpdSU, Michail Gorbatschow, hat in seinen Memoiren später gesagt, dass das Ereignis in Tschernobyl den Zerfall der Sowjetunion massiv beschleunigt hat.
Werner Glaser, heute 88 Jahre alt, führte damals den Gemüsebaubetrieb Glaser in Iznang. Mittlerweile hat sein Sohn Leonard den Betrieb übernommen. Der Senior hilft bis heute, wenn es die Arbeit erfordert und sie nicht zu schwer ist.