Bakterien, Antibiotikum – kein Problem. Die Allzweckwaffe gegen Erkrankungen, die durch Bakterien ausgelöst werden, hat für viele Jahre zuverlässig ihre Dienste getan. Doch dieses Bild bekommt Risse. Denn für Apotheker sind Antibiotika immer schwieriger zu bekommen – und entsprechend auch für die Patienten. Das berichten Jörg und Barbara Nothnagel von der Apotheke am Berliner Platz in Singen.
Die Knappheit macht sich besonders jetzt bemerkbar, wo Arztpraxen übervoll sind mit Menschen, die Atemwegserkrankungen haben, und ganze Schulklassen arg ausgedünnt sind. Zwei Winter lang gab es wegen der Corona-Pandemie starke Einschränkungen bei persönlichen Treffen und Atemwegserkrankungen schienen praktisch ausgestorben. Nun, wo Corona weniger ein Thema ist und es kaum noch Einschränkungen gibt, kommen diese Krankheiten allerdings mit Wucht wieder. Die Pharmaindustrie macht die Ursachen für die Medikamentenknappheit bei der Politik aus.
Darunter zu leiden haben die Patienten. Davon kann Sandra Oehle, eine Kundin der Apotheke am Berliner Platz, ein Lied singen. Kürzlich brauchte sie ein Penicillin-Präparat für ihre Tochter. Der Arzt habe eigentlich Tabletten verschrieben, doch die seien kaum zu bekommen gewesen. Den Rest der vorgesehenen Dosis habe sie daher als Saft genommen: „Jetzt habe ich die letzte Flasche Penicillin bekommen. Das ist wie nach dem Krieg“, formuliert Oehle überspitzt. Die Zuzahlung, die fällig wurde, weil das Medikament über dem von der Kasse festgesetzten Pauschalbetrag liegt, habe sie da gerne in Kauf genommen: „Ich war froh, überhaupt was gekriegt zu haben.“
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Dieses Gefühl kennen auch Apotheker Jörg Nothnagel, Inhaber der Apotheke am Berliner Platz, und seine Frau Barbara, die dort angestellte Apothekerin ist. Er ist zudem Referent der Landesapothekerkammer und darf als gut vernetzt gelten. Seit 25 Jahren arbeite er in der Apotheke, seit 15 Jahren sei er ihr Inhaber, berichtet Jörg Nothnagel. Bei den Wirkstoffen Ibuprofen und Paracetamol seien Lieferschwierigkeiten schon länger ein Problem, berichtet er, „vor allem bei Säften – eben alles für Kinder“.
Für beide Wirkstoffe gebe es nur noch zwei große Firmen in Deutschland, die den größten Teil der Präparate herstellen. „Wenn eine davon ausfällt, können die kleineren Firmen das nicht ausgleichen“, sagt der Apotheker. Tendenziell länger in der Apotheke vorrätig seien weniger gefragte Darreichungsformen wie Zäpfchen, doch auch die gebe es nicht mehr in allen Dosierungen und auch sie würden nicht mehr neu produziert.
Jetzt auch noch Lieferschwierigkeiten bei Antibiotika
Ein vergleichsweise neues Problem sind Lieferschwierigkeiten bei grundlegenden Antibiotika. Bei Medikamenten mit Wirkstoffen der Penicillin-Gruppe gebe es seit Anfang November Lieferschwierigkeiten, erklärt Nothnagel, und auch bei dem Antibiotikum Amoxicillin könne man kaum noch etwas beschaffen. Gerade für Kinder, Schwangere und Stillende sei das fatal, denn diese Präparate seien für diese Gruppen am besten verträglich.
Als ein Problem macht der Apotheker die Preispolitik der Krankenkassen aus. Denn diese handeln mit Pharma-Herstellern Rabattverträge aus und setzen strenge Preisgrenzen bei Generika fest – also bei Medikamenten mit Wirkstoffen, die keinen Patentschutz mehr genießen. In der Regel geht es um Beträge von ein paar Euro pro Medikamentenpackung. Mitunter lohne sich die Produktion von Paracetamol für die Unternehmen dann nicht mehr, so der Apotheker. Manche Unternehmen seien deswegen völlig aus dem Geschäft mit den Krankenkassen ausgestiegen. Deren Mittel würden eigentlich nur noch ohne Verschreibung an Selbstzahler verkauft.
Preispolitik ist ein Problem, sagen Apotheker und Industrie
Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) stößt ins selbe Horn und sieht die Ursache für die Misere bei der Bundespolitik. Arzneimittelpreise seien bei den gesetzlichen (GKV) und den privaten Krankenkassen (PKV) „nahezu lückenlos reguliert“, heißt es aus der Presseabteilung des BPI. Seit 2010 seien die Preise für viele Arzneimittel eingefroren, das Finanzstabilisierungsgesetz für die GKV habe diese Regelung für vier Jahre verlängert. „Das trifft die pharmazeutischen Hersteller in Zeiten exorbitant steigender Energie- und Rohstoffpreise und hoher Inflation umso härter“, schreibt Fabian Locher, stellvertretender Pressesprecher beim BPI.
Schon vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine habe es Störungen in den Lieferketten gegeben, so Locher weiter. Denn durch den Kostendruck sei die Produktion der eigentlichen Wirkstoffe vor allem nach China und Indien ausgelagert worden – mit allen Abhängigkeiten von diesen Ländern.
Eine regelrechte Versorgungsnotlage sieht der BPI-Sprecher allerdings nicht: „Die Patientenversorgung ist nur in ganz seltenen Fällen erschwert.“ Ein Lieferengpass könne allerdings kritisch werden, wenn es bei bestimmten Präparaten nur noch sehr wenige Hersteller gibt. Und Locher fügt hinzu: Die pharmazeutische Industrie werde alles tun, um Probleme bei Produktion und Lieferung zu verhindern.
Pharmaindustrie fordert großzügigere Regelungen bei Preisen
Der BPI fordert daher eine Möglichkeit, Preise anhand der aktuellen Inflation anzupassen. „Versorgungsrelevante Arzneimittel müssen vom Preisstopp ausgenommen werden“, so Locher weiter. Außerdem sollten Ausschreibungen für Rabatte nur dann möglich sein, wenn mindestens vier Anbieter am Markt sind. Und er gibt zu bedenken, dass eine Rückverlagerung der Produktion mit den notwendigen Anlagen Jahre dauern könnte.
Angesichts der momentanen Lieferengpässe gebe es auch Fälle, in denen ein eigentlich zu teures Medikament auf Rezept abgegeben werde, sagt Apotheker Jörg Nothnagel – und der Patient müsse zuzahlen. Die Mitarbeiter in der Apotheke stehen dabei regelmäßig vor Ermessensentscheidungen. Was tun, wenn jemand sagt, er könne die Zuzahlung nicht aufbringen? In der Apotheke am Berliner Platz ist das schon passiert. Doch auch als Apotheker verdiene man an den Mitteln nichts, stellt er klar. Hundertmal am Tag kleine Beträge erlassen? „Dann ist es auch kein Kleckerles-Betrag mehr“, schildert er das Dilemma.
Und wann ist Besserung in Sicht? Die Lieferanten würden auf Mitte Januar vertrösten, sagt der Apotheker.