Sebastian Raetz kleidet sich in vornehme Zurückhaltung, so, als wolle er hinter die luxuriösen Produkte, die er in seinen elf Gradmann-Läden verkauft, zurücktreten. Er bewegt sich, als wolle er die Verheißung seiner Ware nicht zerstören. Wir sind in der Parfümerie in der Scheffelstraße verabredet, um über die jüngste Entwicklung des Konstanzer Traditionsunternehmens Gradmann 1864 zu sprechen. Die Firma wird in das neue Singener Einkaufszentrum Cano direkt gegenüber dem Bahnhof einziehen. Das Unternehmen wird dafür nicht – wie viele vermuteten – seine Niederlassung in der Scheffelstraße aufgeben, sondern einen zweiten Standort in Singen eröffnen.
Konstanz als gutes Beispiel
Die Entscheidung sei bereits vor etwa einem Jahr gefallen, sagt der Geschäftsinhaber. „Ich habe die Cano-Diskussion von Anfang an mitverfolgt“, erzählt er, „am Beispiel von Konstanz konnte man gut beobachten, dass eine innerstädtische Mall die Menschen anzieht.“ Davon hätten in Konstanz alle Händler profitiert, und das werde auch in Singen so kommen. Raetz kann die Sorgen der Kollegen verstehen. Aber er bleibt optimistisch. Voraussetzung sei allerdings, dass sich der Bestandshandel auch attraktiv präsentiert.
Einbruch bei Schminkprodukten
Die fünf Wochen Lockdown zur Bekämpfung der Corona-Pandemie hat auch bei Gradmann die Umsätze mächtig schrumpfen lassen. Besonders groß sei der Einbruch bei Make-up und Lippenstift gewesen. Wegen der Maskenpflicht werden diese Produkte weniger gekauft. Gradmann hat Kurzarbeit für seine rund 80 Mitarbeiter angemeldet und dann die Löhne aus dem eigenen Finanzpolster auf 100 Prozent aufgestockt. „Wir haben niemanden entlassen müssen“, berichtet Raetz stolz. „Und wir haben in der Zeit auch nie unseren Beschluss in Frage gestellt, ins Cano zu ziehen. Nun hoffen wir natürlich, dass es auch unseren Kunden gefallen wird.“
Raetz zeichnet Pläne selbst
Die Pläne für die Innenausstattung hat Sebastian Raetz zusammen mit dem Architekten selber gezeichnet und dabei auf elegante Zurückhaltung geachtet, so wie er sie selbst verkörpert. Für die Regale hat er schwarzen Stahl und Eiche gewählt, der Fußboden wird hell. Natürliche Materialien sollten es sein, keine Wegwerfprodukte. „Den Luxus bringen unsere Produkte mit“, sagt die Unternehmer. „Es ist ein Luxus, den sich viele Leute leisten können. Nicht das Gucci-Kleid aber das Gucci-Parfüm und die Sonnen- oder Hautpflege“, fügt Sebastian Raetz hinzu.
Übernahme der Azubis
Doch was unterscheidet Gradmann von anderen Parfümerien oder dem Online-Handel? Die Produkte sind überall die gleichen. „Unsere Mitarbeiter“, sagt Sebastian Raetz. „Sie müssen zu unserer Familie passen. Deshalb übernehmen wir die meisten unserer Auszubildenden.“ Ganz wichtig ist Raetz, den Kunden auf Augenhöhe zu begegnen, sich soviel Zeit für die Beratung zu nehmen, bis zum Beispiel der Charakterduft oder das perfekte Make-up gefunden wurde.
Ein Hauch von Luxus
Raetz kennt alle Produkte, weil er sie selber einkauft. Zu allen kann er eine Geschichte erzählen, und das vermittelt er auch seinen Verkäuferinnen. Die Kunden sollen eintauchen in eine andere Welt. Der Luxus bestehe nicht alleine in dem Duft, sondern in der Vorstellung von Luxus und Glamour, den dieser vermittle. Das könne der Online-Handel nicht leisten.
Kein Verständnis für manchen Kollegen
Im Cano will Gradmann auf 400 Quadratmetern Verkaufsfläche einen Wohlfühlladen betreiben, der solche Verheißungen biete, erklärt Raetz. Geplant sind zwei kleine Lounges für Pflege und Düfte und eine Kaffee-Bar zum Verweilen. „Ich freue mich auf das Cano und hoffe, dass die Kunden das auch toll finden. Es ist ein sehr modernes Center. Singen wird gewinnen“, ist Raetz überzeugt. Und das, obwohl er ursprünglich gar nicht da einziehen wollte. Nicht verstehen kann er seine Handelskollegen – besonders in Konstanz, die über die Kunden aus der Schweiz schimpfen: „Ich bin heilfroh über diese Kunden.“