Es ist 8.15 Uhr, als Christoph 11 an der Luftrettungsstation abhebt. Es wird ein schöner Herbsttag. Der Himmel ist klar, keine Wolke weit und breit, der Sonnenaufgang verspricht ein echtes Schauspiel zu werden. Die Rotorblätter drehen sich, immer schneller, verschwimmen zu einem dunklen Muster. Die Türen vibrieren, es geht ein Stück rückwärts, dann nimmt der Hubschrauber Kurs auf.

Im Sonnenaufgang wird der Hubschrauber aus dem Hangar gefahren.
Im Sonnenaufgang wird der Hubschrauber aus dem Hangar gefahren. | Bild: Nathalie Göbel

 

Drei Minuten zuvor ist ein Alarm eingegangen. Drei Minuten zuvor haben Notarzt Christoph Herzog, Notfallsanitäter Andreas Schuhbauer und Pilot Kilian Szulmirski ihre Kaffeetassen auf dem Frühstückstisch in der Station stehen lassen. Sechs Minuten nach dem Start wird Christoph 11 auf einer Wiese in einem Stadtbezirk Villingen-Schwenningens landen.

Notfallsanitäter Andreas Schuhbauer, Pilot Kilian Szulmirski und Notarzt Christoph Herzog (von links) beim Frühstück in der Station. ...
Notfallsanitäter Andreas Schuhbauer, Pilot Kilian Szulmirski und Notarzt Christoph Herzog (von links) beim Frühstück in der Station. Wenige Minuten später wird der erste Notruf eingehen. | Bild: Nathalie Göbel

„Bewusstlosigkeit“, steht auf dem Meldeempfänger. Eine junge Frau ist kollabiert, ihr Mann hat sie gefunden. Was die Retter erwartet? Sie wissen es nicht, als sie aus dem Hubschrauber steigen, sich den großen Notfallrucksack angeln und in das nur wenige Meter entfernte Haus am Ortsrand eilen.

Kilian Szulmirski liest am frühen Morgen die „Notice to Airmen“: In einer seitenlangen Auflistung informiert die Deutsche ...
Kilian Szulmirski liest am frühen Morgen die „Notice to Airmen“: In einer seitenlangen Auflistung informiert die Deutsche Flugsicherung über Hindernisse wie neu aufgestellte Kräne oder geplante Fallschirmsprünge. | Bild: Nathalie Göbel

Nicht immer kann Kilian Szulmirski den Hubschrauber so dicht an den Einsatzort lenken. Und doch ist die Christoph 11-Besatzung meist schneller als der bodengebundene Notarztwagen, auch wenn dieser sich mit Blaulicht und Martinshorn den Weg durch Städte und Fahrzeugkolonnen bahnt. Mit knapp 130 Knoten – das entspricht 240 Stundenkilometern – bringt der Hubschrauber das Team zum Einsatzort. Und oft geht es um Sekunden.

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Rettungshubschrauber Christoph 11 beim Abflug am Schwarzwald-Baar-Klinikum.
Rettungshubschrauber Christoph 11 beim Abflug am Schwarzwald-Baar-Klinikum. | Bild: Nathalie Göbel

Bei den meisten Einsätzen ist der Hubschrauber Notarzt-Zubringer, an zweiter Stelle folgen Krankentransporte. Nicht immer sind Unfallopfer oder akut Erkrankte an Bord: Häufig, vor allem abends und nachts, werden Patienten von einem Krankenhaus ins andere verlegt. Vor zwei Jahren hat Christoph 11 den 24-Stunden-Betrieb aufgenommen.

Der erste Alarm des Tages: Eine Frau in einer Gemeinde im Landkreis wurde nach einem Krampfanfall bewusstlos aufgefunden.
Der erste Alarm des Tages: Eine Frau in einer Gemeinde im Landkreis wurde nach einem Krampfanfall bewusstlos aufgefunden. | Bild: Nathalie Göbel

Die Einsatzschwerpunkte haben sich in den vergangenen Jahren verschoben, sagt Andreas Schuhbauer. Technische Errungenschaften machen Autos immer sicherer, so dass die Luftrettung immer seltener zu schweren Verkehrsunfällen gerufen wird. „Stark zugenommen haben die Notfälle durch Zivilisationserkrankungen“, sagt Schuhbauer: „Herzinfarkte, Schlaganfälle, Unter- oder Überzuckerung bei Diabetikern.“

Seit 2001 mit an Bord

Seit 1998 ist Schuhbauer im Rettungsdienst tätig. Als Zivildienstleistender hat er angefangen, einem Abstecher ins Medizinstudium folgte die Ausbildung, seit 2001 gehört er zur regelmäßigen Besatzung des Rettungshubschraubers Christoph 11. Mittlerweile darf er sich HEMS TC nennen: Helicopter Emergency Medical Services Technical Crew Member, was mit Rettungshubschrauber-Besatzungsmitglied übersetzt werden kann. Er darf die DRF-Piloten unterstützen – etwa bei der Navigation oder im Funkverkehr– aber hat selbst keine Qualifikation als Pilot.

Modernstes Modell der Flotte

Die Begeisterung ist dem 48-jährigen Vater zweier Kinder anzumerken, wenn er über seinen luftigen Arbeitsplatz spricht. Hinter der nüchternen Typbezeichnung „H 145“ verbirgt sich das modernste Modell der Airbus-Hubschrauberflotte, das 2014 erstmals auf den Markt kam.

Neueste Technik

Ein digitales Cockpit und neueste Medizintechnik machen den in VS stationierten Hubschrauber zu einer Intensivstation auf kleinstem Raum: Ob EKG oder Intubation, Messen der Sauerstoffsättigung oder Ultraschall – an Bord sind alle erforderlichen Geräte vorhanden, und alle können ausgebaut und mit zum Patienten genommen werden.

Pilot Kilian Szulmirski hat dieses Kartenkonstrukt für längere Flüge ausgetüftelt. Mit dessen Hilfe lässt sich auf einen Blick ablesen, ...
Pilot Kilian Szulmirski hat dieses Kartenkonstrukt für längere Flüge ausgetüftelt. Mit dessen Hilfe lässt sich auf einen Blick ablesen, wie viel Kerosin benötigt wird und wie lange die Flugzeit sein wird. | Bild: Nathalie Göbel

Die bewusstlose Patientin hat das Bewusstsein bereits wieder erlangt, als Christoph Herzog und Andreas Schuhbauer bei ihr eintreffen. Sie werden erfahren, dass ihr das bereits zwei Mal passiert ist. Die Frau wird, begleitet von Notarzt Herzog, mit dem Rettungsdienst ins Schwarzwald-Baar-Klinikum gebracht.

App informiert die Notaufnahme

Im Klinikum weiß man schon jetzt, dass die Patientin auf dem Weg ist. „Epileptischer Anfall“ wird Andreas Schuhbauer als erste Diagnose in die App „Rescue Track“ auf seinem iPhone eingeben, Namen und Alter der Frau sowie verschiedene medizinische Werte.

Der nächste Rettungswagen

In der Zentralen Notaufnahme (ZNA) erscheinen diese Informationen auf einem Monitor – inklusive der voraussichtlichen Ankunftszeit, die von der App gleich mit berechnet wird. Bei der Menschenrettung wird nichts dem Zufall überlassen. Moderne Technik trägt dazu einen wesentlichen Teil bei. „Schon bei der Alarmierung errechnet der Computer in der Leitstelle anhand von GPS-Daten, welcher Rettungswagen aktuell der nächst gelegene ist“, sagt Andreas Schuhbauer.

Zwangspause im Sonnenaufgang: Nach dem ersten Einsatz darf Pilot Kilian Szulmirski nicht zurück ans Klinikum fliegen: Dichter Nebel ...
Zwangspause im Sonnenaufgang: Nach dem ersten Einsatz darf Pilot Kilian Szulmirski nicht zurück ans Klinikum fliegen: Dichter Nebel macht die Landung unmöglich. | Bild: Nathalie Göbel

Auf der Wiese am Ortsrand ist für ihn und Pilot Kilian Szulmirski erst einmal eine Zwangspause angesagt: Dichter Frühnebel ist am Klinikum aufgezogen und macht eine Landung unmöglich. Es dauert nicht lange, bis zwei Kinder angestiefelt kommen. Ob groß oder klein – der Hubschrauber ist für alle eine Attraktion. „Kommt ruhig näher“, sagt Kilian Szulmirski. Ehrfürchtig bestaunen das Mädchen und der Junge das knapp 1,8 Tonnen schwere Fluggerät. Geduldig beantwortet der Pilot Fragen, Aufkleber der DRF Luftrettung mit Hubschraubermotiv gibt es für sie obendrein dazu – die Kinder werden ihren Freunden einiges zu erzählen haben.

Fast 1000 Einsätze im ersten Halbjahr

Im ersten Halbjahr 2019 hat die wechselnde Besatzung des Rettungshubschraubers 623 Notfalleinsätze tagsüber und 64 nachts absolviert. 117 Intensivpatienten wurden tagsüber transportiert, nachts 125. „Tagsüber beträgt unser Aktionsradius etwa 50 Kilometer“, erklärt Andreas Schuhbauer.

Nachts wird auch weiter geflogen

Nachts finden auch längere Flüge statt, denn nicht alle Rettungshubschrauber dürfen nach Sonnenuntergang fliegen. „Vor Kurzem haben Kollegen zum Beispiel einen Patienten in Ludwigsburg abgeholt und ins Transplantationszentrum nach Hannover geflogen.“

Notfallsanitäter Andreas Schuhbauer zeigt das mobile Beatmungsgerät. An Bord von Christoph 11 befindet sich im Prinzip eine kleine ...
Notfallsanitäter Andreas Schuhbauer zeigt das mobile Beatmungsgerät. An Bord von Christoph 11 befindet sich im Prinzip eine kleine Intensivstation – und alles ist ausbau- und transportierbar. | Bild: Nathalie Göbel

Betrieben wird die Luftrettungsstation von der DRK Rettungsdienst Schwarzwald-Baar gGmbH, den Flugbetrieb hat 1996 als Kooperationspartner die DRF (Deutsche Rettungsflugwacht) Luftrettung übernommen.

Jeder Tag ist anders

Kein Tag gleicht dem anderen. „Manche sind ruhig, an anderen kommst du nicht mal dazu, einen Kaffee zu trinken“, sagt Andreas Schuhbauer. Und manchmal muss man auch eine Zwangspause auf einer Wiese einlegen.

Fluglehrer in Boston

Kilian Szulmirski vertritt sich in der Morgensonne die Beine, nachdem er die Fragen der Kinder beantwortet hat. Der 32-jährige Konstanzer kann sich keinen schöneren Beruf vorstellen. Seit 2011 darf er sich offiziell Pilot nennen. „Der Rettungshubschrauber war immer mein Ziel“, sagt er. Seine Ausbildung hat er in den USA absolviert, anschließend in Boston als Fluglehrer gearbeitet, bevor er in Schottland Personaltransporte auf Ölplattformen flog. Seit 2018 fliegt er für die DRF Luftrettung.

Check im Hangar: Bevor der Rettungshubschrauber auf den Startplatz gefahren wird, überprüft Pilot Kilian Szulmirski das Fluggerät von ...
Check im Hangar: Bevor der Rettungshubschrauber auf den Startplatz gefahren wird, überprüft Pilot Kilian Szulmirski das Fluggerät von vorne bis hinten. | Bild: Nathalie Göbel

Sein Arbeitstag – heute ist der erste nach einer zweiwöchigen Pause – hat mit dem gründlichen Check des Hubschraubers und dem Lesen der (Notice(s) to Airmen – „Nachrichten an Luftfahrer“ (NOTAM) begonnen: eine seitenlange Auflistung, die von der Deutschen Flugsicherung bereitgestellt und laufend aktualisiert wird: Wo wurden in der Nähe eines Landeplatzes hohe Baustellenkräne neu aufgestellt? Wo sind Fallschirmsprünge geplant?

Nebel verhindert Landung

Noch immer ist es neblig und Christoph 11 kann nicht zurück an die Station fliegen. Ein Fahrer bringt Notarzt Christoph Herzog schließlich vom Klinikum zurück zum Hubschrauber – sollte es Alarm geben, wird eben von hier aus gestartet.

Seit 31 Jahren an Bord

„Herr Herzog, am Wochenende ist schönes Wetter, wollen Sie nicht ein bisschen Rettungshubschrauber mitfliegen?“ Mit diesem Satz hat 1987 die Laufbahn des gebürtigen Hüfingers als fliegender Notarzt begonnen. „Ich wollte aber erstmal noch ein bisschen was in der Notfallmedizin lernen“, erinnert sich der 62-Jährige schmunzelnd. Damals wurden Notärzte für den Hubschrauberdienst händeringend gesucht, heute gibt es am Schwarzwald-Baar-Klinikum eine Warteliste.

Andreas Schuhbauer zeigt, wie die Trage aus dem Rettungshubschrauber geholt wird. Sie ist so konstruiert, dass sie von einer Person ...
Andreas Schuhbauer zeigt, wie die Trage aus dem Rettungshubschrauber geholt wird. Sie ist so konstruiert, dass sie von einer Person alleine herausgezogen werden kann. In der Regel ist Christoph 11 mit drei Personen besetzt: Pilot, Notarzt und Notfallsanitäter. Nachts sind zwei Piloten an Bord. | Bild: Nathalie Göbel

Ein Jahr später hatte Herzog – er ist Internist und Anästhesist – seinen ersten Flug. Und bis heute lässt ihn die Fliegerei nicht los. Unzählige Einsätze hat er erlebt, sich über glückliche Ausgänge gefreut und Tragödien mit ertragen. Was treibt ihm auch nach mehr als 30 Jahren noch den Puls in die Höhe? Herzog muss nicht lange überlegen.

Überregionales Traumazentrum

„Polytraumata“, also mehrere gleichzeitig erlittene und oft lebensbedrohliche Verletzungen. Das Schwarzwald-Baar-Klinikum ist als überregionales Traumazentrum zertifiziert. Rund um die Uhr stehen ein Schockraum und ein Notfall-OP-Team bereit. Ein Polytraumabett wird immer frei gehalten. Theoretisch können zwei Schwerstverletzte gleichzeitig versorgt werden.

Mittagessen an der Station

Zurück an der Luftrettungsstation gibt es Mittagessen. Wurstsalat – der schmeckt allen und kann vor allem nicht kalt werden, wenn der nächste Einsatz ansteht. Nach dem Essen können die drei es kurz ruhig angehen lassen. Christoph Herzog erledigt Papierkram, Kilian Szulmirski und ein Techniker tauschen einen Generator am Hubschrauber aus, Andreas Schuhbauer führt eine Besuchergruppe des DRK-Ortsvereins durch die Station.

Oberarmbruch auf dem Friedhof

Noch während er die Technik an Bord erklärt, piept der Meldeempfänger: Auf dem Schwenninger Waldfriedhof ist eine Seniorin gestürzt, vermutlich hat sie sich den Arm gebrochen. Nur wenig später landet der Hubschrauber auf einer angrenzenden Wiese, aus Bad Dürrheim ist ein Rettungswagen gekommen. Die Frau wurde von Passanten schon auf eine Bank gesetzt. Sie hat starke Schmerzen, tatsächlich ist der Oberarm gebrochen. Sie erhält zunächst ein starkes Schmerzmittel, dann geht es zur weiteren Versorgung ins Klinikum. Auch für die Hubschrauberbesatzung heißt es: zurück an die Station. Zumindest so lange, bis der nächste Alarm gegeben wird.