Die Afghanistan-Krise liegt von Villingen genau 6168 Kilometer entfernt. Und während in Kabul Selbstmordattentäter ausländisches Militär am Flughafen angreifen, sitzt Emran in einem Café an der Rietstraße und berichtet zur Lage. Seine Familie ist noch in Afghanistan, Mutter und Schwester sind aktuell auf der Flucht vor den Taliban, zu Fuß quer durch das Land Richtung pakistanische Grenze.

Emran ist heute 22 Jahre alt. Er kann dem SÜDKURIER seine Geschichte auf Deutsch erzählen. Gelernt hat er das vor fünf Jahren in Berlin. Dort hat er auch seinen Hauptschulabschluss gemacht. Nach Villingen-Schwenningen kam er, weil er sich auf eine Lehrstelle beworben hat. Die hat er bekommen. Heute lernt er Koch in einem Betrieb der Region.

Sein Status lautet: Geduldet. Seine Bemühungen um Sprache um Bildung werden anerkannt nach dem Paragrafen 25 A.

Vom Angriff auf Amerika bis zu den heutigen Umstürzen

Vor 20 Jahren haben die Terroristen Amerika angriffen und mit Flugzeugen einen bis dahin unvorstellbaren Massenmord in New York und Washington verübt. Über 3000 Tote gab es allein in der Folge der Attacke mit gekaperten Verkehrsflugzeugen auf die Zwillings-Hochhäuser in Manhattan. Die New Yorker Wahrzeichen stürzten ein, die Welt war danach eine andere. Amerika schlug zurück. Seither ist Krieg.

Und dieser Krieg in Afghanistan scheint nicht aufzuhören. Hierhin hatte sich die Terrororganisation um Osama Bin Laden zunächst geflüchtet, die Gewalt dauert fast genau so lange an wie Emran auf der Welt ist. Er stammt aus einer Stadt im Norden des Landes. Und als 17-Jähriger beantragte er in Deutschland Asyl. Der Antrag wurde abgelehnt. Emran durfte aber bis auf Weiteres bleiben.

Emran (links) spricht gutes Deutsch und versteht alles. Trotzdem wirkt er hilflos, wenn es um seinen Flüchtlingsstatus und andere ...
Emran (links) spricht gutes Deutsch und versteht alles. Trotzdem wirkt er hilflos, wenn es um seinen Flüchtlingsstatus und andere Herausforderungen geht. Nicola Schurr (rechts) betreut den jungen Mann. | Bild: Trippl, Norbert

Mit seinem Bruder, so erzählt er im August 2021 seine Beweggründe, sei er „zu Fuß und mit dem Bus“ aufgebrochen. Die Beiden schlugen sich bis nach Nordeuropa durch und kamen schließlich nach Deutschland und zunächst nach Berlin. Der Vater, die Mutter und sechs Geschwister blieben zurück. In Afghanistan baute sich über die Jahre vor allem in Kabul Hoffnung auf ein Leben in Freiheit im eignen Land auf. Vor allem die Hauptstadt-Bürger rangen um ein neues Leben.

Ein ernster Blick und viele große Sorgen

Der junge Mann aus dem afghanischen Norden ist freundlich, wenn er diesen Sommer in Villingen spricht. Er fixiert sein Gegenüber und wirkt dabei sehr ernst. Er spricht flüssig und mit einem starken Akzent, grammatikalisch aber korrekt und klar. Er versteht selbst alles sehr gut.

Sein ernster Blick ist kein Wunder. Er berichtet, dass er „nachts kaum schlafen kann, die Sorge um seine Familie treibt mich ans Telefon“. Er erzählt von sich aus, dass er sich kaum konzentrieren kann, lesen zum Beispiel falle ihm aktuell schwer.

Hier wollen die Mutter und die Schwester von Emran hin: An der Grenze zu Pakistan gehen aber die Tore zu. Die Flüchtlinge hoffen auf ...
Hier wollen die Mutter und die Schwester von Emran hin: An der Grenze zu Pakistan gehen aber die Tore zu. Die Flüchtlinge hoffen auf eine internationale Lösung. | Bild: AFP

Am Telefon schildern ihm seine Eltern und Brüder, was zuhause geschieht. „Mein kleinster Bruder wurde schon zweimal von den Taliban mitgenommen.“ Und in einem Nebensatz fasst er zusammen, dass seinem Vater vor ein paar Tagen „das Auto von den neuen Machthabern beschlagnahmt wurde, der koreanische Kleinwagen“ sei einfach von Soldaten mitgenommen worden.

Weshalb er mit seinem Bruder geflüchtet ist

Emran und sein älterer Bruder haben schon früh nicht an die Zukunft im Land geglaubt. Deshalb seien sie nach Europa aufgebrochen. Ihr Pessimismus zur Zukunft Afghanistans habe schon vor sieben, acht Jahren darauf basiert, dass „im Land eigentlich ständig Krieg geherrscht hat“. Emran ist Muslim. Auf die Frage, ob er aktuell öfters für seine Familie beten würde, sagt er knapp: „Beten ist keine Lösung.“

Was dem jungen Mann aktuell hilft, das ist die Strukturierung des Tages durch seine Arbeit. Immer wieder trifft er sich derzeit mit seinem Bruder. Er erzählt das wie nebenbei und offenbart damit seine Suche nach Geborgenheit.

Bilder, die um die Welt gingen: Dicht gedrängt sitzen Menschen, die am 21. August aus Kabul ausgeflogen werden, auf dem Boden eines ...
Bilder, die um die Welt gingen: Dicht gedrängt sitzen Menschen, die am 21. August aus Kabul ausgeflogen werden, auf dem Boden eines Airbus A400 M der Bundeswehr. | Bild: Marc Tessensohn/dpa

Sein ganzes Leben scheint geprägt von großer, innerer Unruhe. Bis zum Beginn des Aufmarschs der Taliban in Afghanistan im Sommer 2021 hat er offenbar ebenfalls kaum Entspannung gefunden. „Ich habe auch heute Angst davor, dass es bei mir nachts an der Türe klingelt und ich abgeschoben werde“, sagt er leise. Er weiß, dass Deutschland mit Beginn der Machtübernahme der Taliban nicht nach Afghanistan abschiebt. Die Worte vieler deutschen Politiker hat er bis zuletzt sehr wohl vernommen, als es bis zum Auftakt des Taliban-Aufmarsches viele gewichtige Stimmen gab, die behaupteten, das Land Afghanistan sei sicher. Genau jenes Land, aus dem Emran und sein Bruder aufgrund der Zustände dort schlicht davongelaufen waren.

So sieht er die Entwicklungen heute

Er sagt aber auch andere Dinge, unaufgefordert und klar aus seiner Überzeugung heraus: „Deutschland hat mir viel gegeben.“ Und er zählt von sich aus auf: „Schule, Arbeit, Gemeinschaft, Solidarität.“ Dann schiebt er noch nach: „Ich habe hier ein besseres Leben.“

Emran trägt modische Kleidung und hat im Villinger Café alles im Blick. Nicola Schurr hat den SÜDKURIER zu dem Gespräch mitgenommen. Schurr arbeitete jahrelang in Flüchtlingseinrichtungen in Villingen. Der SPD-Stadtrat lernte hier Emran kennen. Die beiden verhalten sich fast wie Brüder. Und als Nicola Schurr für sich und Emran zwei weitere Tassen Cappuccino auf den Tisch stellt, schiebt Emran seinen frischen Kaffee über den Tisch zum Verfasser dieses Textes. „Ihre Tasse ist leer, nehmen Sie bitte meinen Kaffee“, sagt er.

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Wie konnte es mit seinem Heimatland so weit kommen? Emran hat dazu eine klare Meinung. „Die Politik hat versagt“, fährt es aus ihm auf diese Frage heraus. Er ergänzt: „Alle haben versagt.“ Und: „Heute ist es schlechter in Afghanistan als vor 20 Jahren.“ Weshalb? „Damals haben wir noch selber gegen die Taliban gekämpft“, berichtet er aus seiner Familiengeschichte. Dass die Selbstmordattentäter der Terrororganisation Islamischer Staat an diesem Donnerstag 13 Amerikaner am Flughafen in Kabul töten, weiß er in diesem Moment noch nicht. Am Freitag berichtet die Nachrichtenagentur AP, dass auch 95 Menschen aus Afghanistan gestorben sein sollen. In der Nacht zu Samstag berichten internationale Medien von bis zu 200 getöteten Afghanen. Menschen, die vor dem Flughafeneingang auf ihre Rettung hofften. Ihr Leben wurde mit einigen Sprengstoffzündungen beendet.

Die Frauen seiner Familie laufen vor den neuen Herrschern davon

Der junge Afghane weiß in Villingen am Donnerstag auch nicht, wo genau seine Mutter und seine Schwester sind. Sie haben das Haus der Familie verlassen – als Frau nur nicht den Taliban in die Hände fallen. Sie seien in ein Camp zu Fuß aufgebrochen, sagt Emran. Die beiden Frauen hoffen mit der ganzen Familie, dass es eine internationale Lösung in Absprache mit den Taliban geben kann, wonach Menschen nach Pakistan oder in andere Länder ausreisen dürfen.

Ein Ausreisevisum beim Militär konnte die Familie nicht beantragen. Solche Papiere habe seit der Machtübernahme durch die Taliban nur der bekommen, der direkt für die ausländischen Kräfte im Land gearbeitet habe. Viele bleiben nun hilflos im Land zurück. Emran erzählt von einem Bäcker, der morgens 500 Brötchen an ein Soldatenlager geliefert habe. Wenn die Taliban diese Geschäftsbeziehung kennen sollten, sei der Bäcker gefährdet. Ausreisen hätten Personen wie der Bäcker nun aber dennoch nicht dürfen, schildert er eines von vielen hoch schwierigen Beispielen, die nun im Land für Angst und Schrecken sorgen.

Weshalb seine Familie keine Ausreise-Visa beantragen konnte

„Meine Schwester hat für die Stadt Kabul gearbeitet, für die afghanische Demokratie, das war ihr Ziel, ihre Hoffnung.“ In Emrans Familie habe niemand direkt für die ausländischen Streitkräfte gearbeitet. Als Beschäftigte für das bisherige System muss die Familie nun als hoch gefährdet gelten.

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Diese Umstände treiben auch in Villingen unfassbare Blüten. Emran hat die persönlichen Papiere von Mutter und Schwester in Kopie über das Internet sicherheitshalber zugesandt bekommen. Geraten die beiden Frauen an einen Taliban-Kontrollpunkt im Land, ist das Mindeste, was passieren könne, der Verlust der Papiere. Für gewöhnlich würden diese den Menschen einfach weggenommen, weiß auch Nicola Schurr. Der VS-Kommunalpolitiker berät Emran. Er kümmert sich mit um die Verwahrung der Familiendokumente und versucht, im Gespräch mit Behörden herauszufinden, wie Emran seinen Status weiter verbessern könnte.

Die Behörden wiederum halten sich an ihre Vorschriften und einer wie Emran scheint erst einmal kaum weiter voranzukommen. Und wieder dreht sich diese Spirale für den jungen Afghanen weiter, das Leben in der scheinbar unendlichen Unsicherheit.

Eine spontane Geste im Café offenbart sein Wesen

Emran lächelt kaum. Wenn, dann ist es ein bitteres Lachen. Er schildert, dass es ihm trotz allem vergleichsweise gut gehe. Er zeigt auf eine Kaffeetasse auf dem Tisch. „Die kostet zwei Euro. In Afghanistan ist es normal, dass wegen einem Euro Menschen getötet wurden.“

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Der junge Mann könnte so stolz sein auf das, was er geleistet und bis heute erreicht hat. Die Umstände machen das aber unmöglich. Zuviel Sorge umtost diesen Menschen. Sein großer Wunsch: Dass seine Familie überlebt und nachkommen darf. Dass seine Mutter und seine Schwester vermutlich Angebote von Schleusern erhalten, die eine blühende Zukunft in Pakistan für viel Geld versprechen, gilt für ihn aktuell als wahrscheinlich. Emran denkt so: Hauptsache, die beiden Frauen, die vor dem neuen System geflüchtet sind wie einst er selbst, bleiben gesund.

Das fordert Nicola Schurr von den großen Politik

Deutschlands Politik nagt seit Beginn der Flüchtlingskrise an den Herausforderungen. Nicola Schurr sagt, Deutschland müsse endlich ein Einwanderungsgesetz haben, das die Interessen der Menschen löst. Deutschland brauche eine qualifizierte Zuwanderung, um Wirtschaftsnation bleiben zu können, sagt der Sozialdemokrat aus Villingen-Schwenningen. Das wird auch von höchster Stelle aus so gesehen: Deutschland braucht aus Sicht des Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, rund 400.000 Zuwanderer pro Jahr – und damit deutlich mehr als in den vergangenen Jahren, heißt es jetzt Ende August.

Weshalb Deutschland eine klare Regelungen braucht, wird auch am Beispiel vom Emran deutlich. Er weiß sechs Jahre, nachdem nach Deutschland kam, noch immer nicht, was mit ihm und seinem Leben passieren wird. Dafür scheint festzustehen, dass der Krieg in Afghanistan eine Wendung genommen hat. US-Präsident Joe Biden hatte Stunden nach dem Anschlag Rache angekündigt. Am Samstagmorgen stand fest: Amerika hat zurückgeschlagen. Mit Drohnenangriffen soll ein Planer der Spengstoff-Anschläge vom Flughafen in Kabul getötet worden sein. Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter.

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