Ralph bereitet gerade am Rheinufer zwischen Jestetten und Rheinau eine Sauerstoffflasche für den ersten Tauchgang des Jahres vor. „Als Jugendliche haben wir auch wildgecampt, aber dass da einer vorbeikommt und einen tot schlägt? Warum denn auch?“, fragt der schon lange in der Schweiz lebende Deutsche fassungslos.
Genau eine Woche ist es her, dass ein 31-jähriger Wildcamper aus dem Kanton St. Gallen am deutschen Rheinufer in Jestetten brutal getötet wurde – der oder die Täter sind weiter flüchtig. „Die Suche nach dem Tatverdächtigen läuft weiter uneingeschränkt“ und mit „Hochdruck“, sagt Gerald Hilpert vom zuständigen Polizeipräsidium in Freiburg dem SÜDKURIER. Nachsatz: Über die Zahl der beteiligten oder anwesenden Personen lasse sich derzeit „keine belastbare Aussage“ treffen.
„Es ist einfach traurig“
Am Donnerstag durchkämmten zahlreiche Einsatzkräfte der Polizei und Feuerwehr mit Unterstützung einer Drohne erneut den Weg zwischen der Alten Zollbrücke und dem Lottstetter Ortsteil Balm nahe des etwa in der Mitte gelegenen Fund- und Tatorts.
Außerdem suchten mehrere Taucher im Rhein nach verdächtigen Gegenständen. Am Tag davor hatten deutsche Kripobeamte im Jestetter Rathaus wieder mehrere mögliche Zeugen vernommen. 53 Kriminal- und Schutzbeamte zählt die Sonderkommission „Stick“ inzwischen.
Dass die Polizei den oder die Täter noch immer nicht fassen konnte, beunruhigt einige Jestetter und Rheinauer. Manche äußern nach der ungewöhnlich brutalen Tat Ängste und Bedenken, in den nicht bewirtschafteten und deshalb dicht bewachsenen Wald zu gehen. „Es ist einfach traurig, dass gerade hier an einem so schönen Ort sowas passiert. Wer kann so böse sein?“, fragt eine 68-jährige Rheinauerin sichtlich betroffen.
„In 46 Jahren noch nie sowas hier erlebt“
Marcel Zwahlen ist der langjährige Wirt des Gasthaus zum Salmen direkt bei der Alten Zollbrücke in Rheinau. Er sagt: „Ich habe 46 Jahre hier verbracht und noch nie sowas erlebt.“ Wildcamper habe er hier noch nie gesehen. „Es hätte bei uns eine Übernachtungsmöglichkeit gegeben“, so der 72-Jährige.

Wer den schmalen Fußweg von der Alten Zollbrücke entlang des Rheinufers bis zum Tatort zurücklegt, den ereilt ein mulmiges Gefühl. Im dicht bewachsenen Gehölz und Buschwerk raschelt und rumort es vor lauter Kleintieren und Insekten. Eine blitzschnelle Maus und plätschernde Bäche kreuzen den idyllischen Wanderweg.
Tatort war sechs Tage lang abgesperrt
Diesen Pfad dürfte auch der St. Galler Wildcamper wenige Stunden vor seinem gewaltsamen Tod gewählt haben. An den meisten Stellen bietet der enge Weg über Stock und Stein nur Platz für einen Fußgänger. Plötzlich kommt dem suchenden Reporter ein hagerer Mann entgegen. Der Tatort sei noch ein Stück weiter flussabwärts – direkt am Rheinufer, antwortet er auf eine Frage und geht grüßend weiter.
Kurz vor der Mündung des Volkenbaches, der die Gemeindegrenze zwischen Jestetten und Lottstetten markiert, liegt eine kleine Waldschneise mit Feuerstelle und direktem Zugang zum Rheinufer samt hölzernen Ministeg. An dieser geschützten Stelle, umringt von hohen Bäumen, wollte der 31-jährige St. Galler Wildcamper die Nacht verbringen. Sechs Tage lang war der Platz mit rot-weißen Polizeibändern abgesperrt.
Kleine Gedenkstätte am Tatort
Nun ist dort, wo der oder die Täter den Kopf und das Gesicht des Opfers laut Polizei mit einem „harten Gegenstand“ – beispielsweise einem Holzstock oder einer Eisenstange – tödlich verletzten, eine provisorische Gedenkstätte eingerichtet: Unter einem Baumstamm steht in einem Glas ein ausgebranntes Teelicht, daneben liegt ein Stein in Herzform. Auf ihm steht mit blauer Schrift und in Großbuchstaben geschrieben: „Severin“. Darunter ist eine Sonne aufgemalt.

Ob der 31-Jährige im Schlaf überrascht wurde, dazu liegen der Polizei noch keine gesicherten Erkenntnisse vor. Fest steht jedoch bereits: Der St. Galler wollte am Rheinufer unter freiem Himmel mit typischen Campingutensilien nächtigen – ein Zelt hatte er laut den Ermittlern definitiv keines aufgebaut, auch wenn das die Neue Zürcher Zeitung berichtete.
Rannte der mutmaßliche Täter weg?
Gefragt, ob von einer Zufallstötung ausgegangen werden muss oder sich das Opfer und der oder die Täter gekannt haben könnten, antwortet Polizeisprecher Gerald Hilpert: „Beide Varianten sind möglich.“ Viele Bewohner von Rheinau und Jestetten glauben jedenfalls nicht an eine Zufallstat: „Ich glaube, dass sich Opfer und Täter gekannt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ein Überfall war“, sagt ein Jestetter, der regelmäßig zum Baden auf die Rheinauer Salmwiese neben der Alten Zollbrücke kommt.
Er berichtet von mehreren Jugendlichen, die sich in der Nacht der Tötung nahe des Tatorts zum Fischen aufgehalten haben sollen. Sie hätten beobachtet, dass plötzlich jemand weggerannt sei. Ein Geschrei oder eine Auseinandersetzung hätten sie aber nicht wahrnehmen können, so der Jestetter.
Blutlache in Rheinau
Zahlreiche weitere Hinweise aus der Bevölkerung gingen bisher bei der Polizei ein. Darunter ist auch die Entdeckung einer Schweizerin aus dem Kanton Thurgau: Sie war bereits am 25. Mai beruflich in Rheinau und im Anschluss am Rheinufer spazieren: „Auf dem Weg entdeckte ich nahe des Rheins frisches Blut“, sagt sie dieser Zeitung. Die Blutlache nahe der Schiffsanlegestelle beim Kraftwerk Rheinau habe etwa einen Durchmesser von 15 Zentimeter gehabt.
Sie habe die Kantonspolizei Zürich informiert. Diese sei zum Schluss gekommen, dass es sich wohl um Blut von Fischen handle. Mehrere Mitglieder der beiden örtlichen Fischervereine in Jestetten und Rheinau sagten, dass größere Mengen an Blut eher untypisch beim Fischen seien.
„Die meisten Fische lassen keine Blutlachen zurück, nur ein bisschen Blut“, sagt einer von ihnen. Anders sei das nur bei richtig großen Fischen, etwa einem Riesenwels. Für den Fang eines solchen Fisches benötige man aber eine spezielle Ausrüstung und tagelange Vorbereitung.

Die Kantonspolizei Zürich teilt auf Anfrage mit, dass die ausgerückte Patrouille vor Ort festgestellt habe, dass es sich um tierisches Blut handle. „Gemäß der angetroffenen Situation dürfte dort ein Fisch ausgenommen worden sein“, so ein Sprecher. Die deutsche Polizei erklärt, der Hinweis sei eingegangen und befände sich noch in Abklärung. Ob eine Probe des Blutes entnommen und auf seinen Ursprung analysiert wurde, wird jeweils nicht beantwortet.
Das Thema Fischen spielt auch bei den zahlreichen Vernehmungen eine Rolle, wie diese Zeitung erfahren hat. Aufhorchen lässt der Umstand, dass die Polizei zwar das Mitgliederverzeichnis des Fischervereins aus Jestetten mit 140 Namen schriftlich angefordert hat, wie ein Beamter bestätigt – nicht aber vom Fischerverein in Rheinau, das näher zum Tatort liegt. Die Polizei spricht von einem „Routinevorgang“ bei den Ermittlungen. Das 31-jährige Tötungsopfer hatte laut einem Kriminalbeamten jedenfalls keine Ausrüstung zum Fischen dabei.