Ein Musiktheater-Abend zum Heulen? „Melencolia“ heißt das Stück von Brigitta Muntendorf, das nun während der Bregenzer Festspiele auf der Werkstattbühne uraufgeführt wurde. Es geht also um Melancholie, und zwar in der ganzen Breite der definitionsmäßigen Unschärfe, die den Begriff seit Jahrhunderten, wenn nicht seit der Antike begleitet. Dennoch, so gibt die 40-jährige Komponistin ihrem Publikum vorab sinngemäß auf den Weg, soll der Abend keine Depressionen auslösen. Überhaupt kann sie der Melancholie auch etwas Positives abgewinnen: „melancholic mood“ bedeute auch, dass man sich einer unlösbaren Situation stelle und in ihr verharre. „Und wenn man das tut, hat man eventuell die Möglichkeit, sie zu bewältigen.“ Melancholie also als Kraft des Aushaltenkönnens.

Materialschlacht

Ein bisschen was von dieser Kraft braucht man auch für die 80-minütige „Show gegen die Gleichgültigkeit des Universums“ (so der Untertitel des Werks), denn wie so oft bei Muntendorf handelt es sich um eine Materialschlacht, um einen assoziativ sich ergießenden Strom an Bildern, Klängen, Texten und szenischen Aktionen, wobei auch die gesamte Bandbreite an elektronischen und digitalen Mitteln, an Virtual Reality und Künstlicher Intelligenz mit ausgeschöpft wird. Die Überforderung ist da durchaus mit eingeplant, doch wenn man sich ihr hingibt und sie akzeptiert, kann man beglückt, ja sogar amüsiert auf den Schwingen der Melancholie segeln.

Schwingen tauchen hier übrigens mehrfach auf. Denn Ausgangspunkt für das Stück, das Muntendorf mit dem Dramaturgen Moritz Lobeck entwickelt hat, war Albrecht Dürers Kupferstich „Melencolia 1“ von 1514, auf dem eine menschliche Gestalt mit Engelsflügeln zu sehen ist, die den Kopf sinnierend in eine Hand stützt. Sie erscheint nun, transformiert in die Ästhetik des 21. Jahrhunderts, als computerdesigntes Wesen (Video: Andreas Huck, Roland Nebe; visuelle Welten: Veronika Simmering) mit luftballonartigen Flügeln und Perlenketten als Tränen.

Der Cellist wird von der Melancholie beflügelt. Über ihm isst eine der drei Nornen die Fäden des Schicksals auf. Die drei Sängerinnen ...
Der Cellist wird von der Melancholie beflügelt. Über ihm isst eine der drei Nornen die Fäden des Schicksals auf. Die drei Sängerinnen darunter sind über Greenscreens in das Bild hineinprojiziert. | Bild: anja koehler

Auch die Musiker des wieder einmal großartigen Ensemble Modern (die als Instrumentalisten und Darsteller zugleich agieren) werden bisweilen von der Melancholie buchstäblich beflügelt – etwa, wenn der Cellist Michael Maria Kasper um sein Leben spielt, während von den Leinwänden drei übergewichtige, gelangweilte Nornen die Fäden des Schicksals wie Spaghetti aufessen. Dann beugt sich der Cellist zum Mikrofon vor: „Früher“, stellt er fest, „haben wir uns manchmal noch nach der Probe zusammengesetzt und die ganze Nacht eine unmögliche Stelle geübt. Das geht heute ja gar nicht mehr.“ Hinter der selbstreferentiellen Bemerkung steckt ein Stückchen Wehmut: Das Ensemble Modern feiert derzeit sein 40-jähriges Bestehen und hat in diesem Rahmen das Auftragswerk an Brigitta Muntendorf mit gefördert. Auch im Rückblick, in der Vergänglichkeit liegt Melancholie.

Ein Vieleck, Dürers rätselhafter Polyeder, wird über die Bühne geschoben.
Ein Vieleck, Dürers rätselhafter Polyeder, wird über die Bühne geschoben. | Bild: Anja Koehler

Und so setzt sich Szene für Szene ein Panoptikum der Melancholie zusammen. Mal singt der Chor aus sechs Sängerinnen einen heimwehgesättigten Liedsatz, mal zeigt ein virtueller Erzähler dem französischen Fußballer Zidane die „schwarze Karte der Melancholie“. Die Musik zeigt sich mal getrieben, mal in Sphärenklängen verharrend, streut Fetzen melancholischer Stimmen ein, spielt mit Referenzen an Pop, Hollywood und Kitsch, ironisiert und bricht diese. Und als Hommage an Dürers Kupferstich finden sich mehrere Hunde und vor allem der rätselhafte Polyeder auf der Bühne wieder (Ausstattung: Sita Messer).

Audiovisuelles Wimmelbild

Der Abend hat neben der Melancholie allerdings einen gewichtigen Konkurrenten: Künstliche Intelligenz, 3D-Animation und virtuelle Welten sind nicht nur Mittel, sondern letztlich auch Thema des Stücks, das bisweilen wie ein Showroom der digitalen Möglichkeiten im modernen Musiktheater wirkt. Rund 60 Lautsprecher um den Raum sorgen für eine Art 3D-Klanglandschaft, die Muntendorf geschickt für ihr audiovisuelles Wimmelbild nutzt, in dem es ständig irgendetwas zu entdecken gibt. Digitale Gäste wie der iranische Dudelsackspieler Saeid Shanbehzadeh tauchen auf und muszieren mit, geklonte Stimmen werden eingesetzt, über zwei Greenscreens werden Musiker oder Sängerinnen live in unterschiedliche virtuelle Landschaften versetzt.

Dürer sieht gegen all die moderne Technik uralt aus – und zeigt doch gerade deswegen: Die Zeit vergeht, doch die Melancholie bleibt.