Zum Jahreswechsel 2018 auf 2019 war ZFs Airbag-Welt noch in Ordnung. Gerade eben hatte der Friedrichshafener Automobilzulieferer der Öffentlichkeit ein ganzes Feuerwerk an Neuentwicklungen zum Insassenschutz vorgestellt, darunter den leichtesten Airbag der Welt und einen voluminösen weißen Prallsack, der sich bei Seitencrashs von außen schützend zwischen die Unfallfahrzeuge schiebt.
Auf gleich mehreren Veranstaltungen wurden die Systeme in beiden Jahren aufwendig präsentiert. Einmal mietete das Stiftungsunternehmen gar ein Testgelände am Lausitzring an, um die Innovationen vorzustellen.
Heute wäre man bei ZF wahrscheinlich froh, das Thema damals nicht so stark nach vorne gerückt zu haben.
Sammelklage gegen ZF und Autobauer in den USA
Denn mittlerweile hat ZF ein Airbag-Problem, das am Prestige kratzt und das das Unternehmen teuer zu stehen kommen könnte. In den USA ermittelt seit Längerem die Verkehrsbehörde NHTSA wegen möglicher lebensgefährlicher Defekte bei ZF-Airbags in Millionen von Fahrzeugen.
Nach SÜDKURIER-Recherchen haben zudem namhafte US-Kanzleien im Auftrag geschädigter US-Fahrzeugbesitzer Klage gegen das Stiftungsunternehmen sowie mehrere Fahrzeughersteller eingereicht.

Die Firmen, darunter Fahrzeugbauer wie Hyundai, Kia, Mitsubishi, Honda oder Toyota, aber auch Fiat-Chrysler sollen laut US-Medienberichten teilweise ab dem Jahr 2011 über die Airbag-Fehlfunktionen informiert gewesen sein, es aber bis 2018 unterlassen haben, die Autobesitzer zu warnen. Stattdessen untersuchte man die Probleme intern, so der Vorwurf – und Menschen starben oder wurden verletzt.
Mindestens ein Todesfall und mehrere Verletzte stehen laut NHTSA im Zusammenhang mit den Fehlfunktionen, die auf überlastete Airbag-Steuereinheiten zurückgehen. US-Medien führen gar mehr als ein Dutzend Tote an.
Viele Fahrzeuge noch nicht rückgerufen
Erst Ende 2015 hätten sowohl ZF als auch die ebenfalls verklagten Autobauer die zuständige Behörde NHTSA informiert, aber offenbar nur einen Teil ihrer Erkenntnisse offengelegt, heißt es in den Berichten. Anfang 2018 sei es dann zu ersten Rückrufaktionen gekommen. Viel zu spät und nicht umfassend genug, argumentieren die Klägeranwälte.
Zahl der betroffenen Autos steigt offenbar immer noch
Da immer noch nicht alle betroffenen Autos in den USA in den Werkstätten sind, seien seit Jahren „Millionen Menschen in Gefahr, verletzt oder getötet zu werden“, sagte David Stellings, Partner bei der US-Kanzlei Lieff Cabraser Heimann & Bernstein dem SÜDKURIER.
Die Autos zu fahren sei „gefährlich“, so Stellings, einer der führenden Anwälte einer Sammelklage, die vor einem Bezirksgericht in Los Angeles anhängig ist. Die Unternehmen hätten Profitinteressen vor Sicherheit gestellt, sagt Stellings. ZF äußert sich zu den Vorwürfen, ebenso wie die NHTSA, nicht.

Für die Friedrichshafener ZF stellt das Airbag-Problem einen Kollateralschaden des größten Zukaufs in der Firmengeschichte dar. Im Mai 2015 hatte der Getriebespezialist den US-Konkurrenten TRW für insgesamt 12,4 Milliarden Dollar übernommen – ein Schritt, der damals als strategischer Clou gefeiert wurde.
Immerhin sicherte sich der auf mechanische Bauteile wie Getriebe, Lenkungen und Achsen spezialisierte Autozulieferer Zugriff auf Elektronik- und Fahrsicherheitskomponenten, die im Zeitalter von E-Mobilität und automatisiertem Fahren immer relevanter werden.
Allerdings holte man sich damit auch das Airbag-Problem ins Haus. Die fehlerhaften Systeme stammen von der heute voll im ZF-Konzern aufgegangenen TRW.
ZF äußert sich nicht zu den Ermittlungen
Ob man das Risiko bei der bei Zukäufen standardmäßig durchgeführten Buchprüfung übersah oder ob man die Giftpille bewusst schluckte, ist unklar. Die ZF-Geschäftsberichte erwähnen das Problem erstmals 2019 – im Jahr, nachdem die NHTSA ihre Untersuchungen einleitete. Seitdem hat es aber an Brisanz gewonnen.
Im letzten ZF-Jahresreport von 2021 ist neben juristischen „Verfahren in den USA“ auch von möglichen Auswirkungen der Pannen-Airbags auf das Konzern-Ergebnis die Rede. Zur Frage, ob Rückstellungen gebildet wurden, um etwaige Schadenersatzforderungen in der Bilanz aufzufangen, äußert sich ZF nicht.

Diese können bei entsprechenden Produkthaftungsfällen in den USA saftig ausfallen. Insbesondere, wenn Personen zu Schaden gekommen sind und dem Verursacher Verwerflichkeit beziehungsweise Vorsatz nachgewiesen werden kann. In diesem Fall sieht der Rechtsrahmen neben Schadenersatz auch sogenannten Strafschadenersatz vor. Dieser aber geht oft mit drakonischen Strafen einher.
Experte: Es könnte teuer werden für ZF
Experten stufen die Auseinandersetzung in den USA für ZF denn auch als heikel ein. „Sollten sich die Vorwürfe der Kläger bestätigen, droht ZF Schadensersatzhaftung, unter Umständen sogar Strafschadensersatz“, sagt beispielsweise Alexander Bruns, Jura-Professor an der Universität Freiburg und langjähriger Kenner des US-Zivilrechts.
Bei Klagen in den USA, bei denen auch Menschen zu Schaden gekommen sind, gehe es dann „unter Umständen um Beträge in enormer Höhe“, so der Fachmann.

Dennoch scheint sich ZF seiner Sache sicher zu sein. Denn während nach Informationen dieser Zeitung einige der verklagten Autobauer Gesprächsbereitschaft mit den Klägern signalisiert haben und einen zügigen Vergleich anstreben, mache es ZF anders und lehne einen Deal bislang ab, wie es von informierter Seite heißt.
Dieselgate-Kanzlei Kirkland vertritt ZF in den USA
Vertreten wird der Getriebespezialist dabei von Kirkland & Ellis, einer der größten Wirtschaftskanzleien weltweit, die beispielsweise auch Volkswagen im Dieselskandal in den USA beraten hatte.
Indes scheint sich der Fall immer mehr auszuweiten. Denn offenbar sind deutlich mehr Fahrzeuge von den defekten Airbags betroffen, als zu Beginn der Ermittlungen angenommen. „Wir sind der Auffassung, dass mehr als 20 Millionen Fahrzeuge in den USA mit defekten Airbag-Kontroll-Einheiten von ZF-TRW ausgestattet sind“, sagte Kläger-Anwalt Stellings dem SÜDKURIER.
Anfangs war die NHTSA noch von etwa 12,3 Millionen Pkw mit dem lebensgefährlichen Defekt ausgegangen. Zusammengenommen hätten die betroffenen Fahrzeughalter in den USA wirtschaftliche Schäden in Höhe mehrerer Milliarden Dollar erlitten, sagt der US-Anwalt. „ZF und die anderen Fahrzeugbauer müssen für die von ihnen verursachten Schäden aufkommen.“
Für den Friedrichshafener Konzern, der Ende 2021 Verbindlichkeiten in Höhe von 12,5 Milliarden Euro in der Bilanz stehen hatte und der an allen Ecken und Enden sparen muss, um den Umstieg auf neue Technologien sowie den Umbau seiner Werke zu finanzieren, wäre eine juristische Niederlage in den USA daher ein schwerer Schlag.
Problem für Ausgliederung?
Die US-Untersuchungen könnten zudem die geplante Ausgliederung der milliardenschweren Sparte für Passive Sicherheitstechnik erschweren. Ende Oktober hatte ZF angekündigt, den Geschäftsbereich mit 38.000 Mitarbeitern und 3,8 Milliarden Euro Umsatz für Investoren zu öffnen, um ein stärkeres Wachstum sowie einen Ausbau der Marktposition zu ermöglichen. Hauptprodukte der ZF-Sparte stellen Airbags und Gurtsysteme, sowie Lenkräder dar.
Ob ein Zusammenhang zwischen dem geplanten Teilausstieg von ZF und den Problemen in den USA besteht, lässt das Unternehmen auf Anfrage offen. „Zu Untersuchungen und juristischen Verfahren äußern wir uns nicht“, sagte ein ZF-Sprecher. Aus Unternehmenskreisen verlautet indes, der Grund für die milliardenschwere Airbag-Ausgliederung liege woanders: ZF brauche in der aktuellen Lage schlicht Geld.