Stellen Sie sich vor, Sie würden von heute auf morgen alle Regeln einer gesunden Ernährung über den Haufen werfen. Sie könnten immer genau das essen, worauf sie Lust haben. Ohne Verzicht, ohne schlechtes Gewissen. Und stellen Sie sich vor, Sie könnten auf diese Weise auch noch gesünder werden und Ihr Traumgewicht erreichen. Unglaublich, oder?
Doch genau das empfehlen Befürworter des Konzepts „Intuitiv essen“. Dabei handelt es sich um einen Gegenentwurf zu jener Ernährungsweise, die sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelte. Daran sind auch die teils widersprüchlichen Erkenntnisse der Ernährungslehre beteiligt. Einst galt die Butter als der Dickmacher schlechthin, heute schaut man genauer hin. Dann wurde der Zucker schlechtgeredet, schließlich erhielten die Kohlenhydrate ihren zwiespältigen Ruf.
Parallel entstand rund um die Fast-Food-Industrie ein Millionengeschäft. Die Kombination aus Werbung, Essensangeboten im Überfluss, warnenden Stimmen aus der Wissenschaft und zugespitzten Schönheitsidealen prägt unsere Beziehung zum Essen.
Der Ernährungswissenschaftler und Autor Uwe Knop ist ein glühender Verfechter des intuitiven Essens. Er behauptet, für die Erfordernis einer „gesunden Ernährung“ gäbe es aus Sicht der Wissenschaft keinerlei Beweise.
Dafür befragte er sieben Fachorganisationen im deutschsprachigen Raum, die sich einig waren: „Eine Einteilung in gesunde und ungesunde Lebensmittel halten wir nicht für sinnvoll. Entscheidend ist, wie viel ich wovon esse“, erklärte in diesem Zusammenhang eine Sprecherin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE).
Zehn elementare Regeln
Trotzdem sind auf der DGE-Webseite die zehn elementaren Regeln aufgelistet, die sie für eine gesunde Ernährung empfiehlt. So wird dazu geraten, wenig Zucker zu essen und bei Backwaren die Vollkorn-Variante zu wählen. Wie lässt sich das mit dem intuitiven Essen vereinbaren?
Obwohl keine Einteilung in gute und schlechte Lebensmittel möglich ist, gibt es gesunde und ungesunde Ernährungsweisen. Doch anders als lange vermutet, existiert hierfür keine allgemein geltende Anleitung. Jeder muss seinen eigenen Weg finden.

Der Knackpunkt des intuitiven Essens lautet also – ist der Körper in der Lage, seinen persönlichen Nahrungsbedarf zu erspüren? „Da ist schon was dran“, meint Michael Streicher, Physiotherapeut und Ernährungsberater aus Konstanz. „Wenn ich Lust auf ein Stück Fleisch habe, signalisiert der Körper: Ich brauche Eiweiß. Allerdings werden wir manipuliert – durch die Werbung und auch durch die vielen Zusatzstoffe in unserem Essen.“
Beim Thema Darmflora sei die Forschung noch nicht am Ende, so Streicher. Aber man vermute, dass die Darmbakterien einen großen Einfluss auf die Gelüste haben. „Was wir essen, gestaltet diese Besiedelung im Darm. Ernähren wir uns viel von Fast Food, so verlangen die entsprechenden Bakterien nach genau diesem Futter“, erklärt der Experte. „Hinzu kommen die Glückshormone – wenn wir etwa ständig Schokolade essen, um unser Belohnungszentrum im Gehirn zu aktivieren, dann ist es nicht Intuition, dann ist es Sucht.“
Was uns der Körper zurückmeldet
Auch Yvonne Krepp, Ernährungsmedizinerin am Klinikum Konstanz, sieht Probleme bei der intuitiven Ernährung. „Der Körper kann Defizite wie einen Salzverlust erspüren. Bei anderen wichtigen Nährstoffen wird es schon schwieriger. Unser Körper meldet beispielsweise keinen Vitamin- oder Spurenelemente-Mangel, außer dieser ist bereits so ausgeprägt, dass daraus eine Krankheit resultiert“, meint sie. „Bis zu einem gewissen Punkt können wir allerdings erlernen, besser auf Hunger und Sättigung zu achten.“
Das bestätigt die DGE. „In der Tat gibt es ein fein justiertes Zusammenspiel von Sensoren des physiologischen Energie- und Nährstoffbedarfs mit den Hunger- und Sättigungssignalen“, sagt eine Sprecherin. Allerdings sei dieses Zusammenspiel etwa bei Menschen mit Adipositas gestört. Wem kann man dann vertrauen?

In den sozialen Medien werden diese Gegensätze sehr deutlich. Ein Blick auf Instagram reicht aus – der Algorithmus spült Fotos von Personen mit scheinbar makellosen Körpern auf unsere Mobiltelefone. Besonders viele Jüngere sehen diese Bilder als Inspiration.
Und dazwischen: Beiträge von Menschen, die zur intuitiven Ernährung raten. Sie behaupten, jeder könne abnehmen, indem er einfach esse, worauf er Lust hat. Wie wirken solche Botschaften auf Jugendliche, die realitätsfernen Körperidealen nacheifern? Und wie wirken sie auf jene, die sowieso ein gestörtes Essverhalten haben?
Michael Streicher sieht das problematisch. „Mit derlei Ratschlägen an essgestörte Personen heranzugehen, halte ich für gefährlich und fahrlässig. Sie sollten erst einmal betreut und psychologisch stabilisiert werden. Solche Tipps auf Social Media sind irreführend und erhöhen geradezu den Stress.“
Intuitiv essen und dabei abnehmen?
Für wen kann die intuitive Ernährung also sinnvoll sein? „Sie eignet sich nur für psychisch und körperlich gesunde Menschen“, sagt Uwe Knop. „Wer abnehmen will, braucht ein Kaloriendefizit. Das ist anstrengend und funktioniert auf Dauer allein mit intuitivem Essen fast nie“, sagt er. Man müsse sich fragen: „Was ist mir mehr wert? Schlank sein und restriktiv essen oder mehr wiegen und essen, was man will?“
Natürlich gibt es auch Personen, die von Natur aus intuitiv essen. Für alle anderen kann die Umgewöhnung mühsam sein. „Es funktioniert nur, wenn man weiß, wie eine ausgewogene Ernährung aussieht und sich intensiv mit dem eigenen Körper auseinandersetzt“, sagt Yvonne Krepp.
Wer sich nicht von Ernährungsregeln lösen will, kann sich die Philosophie des intuitiven Essens ebenfalls zu Herzen nehmen – die Bedürfnisse des Körpers erspüren, auf Hunger- und Sättigungssignale hören und Achtsamkeit üben. Außerdem ist eine Ernährungsregel nicht verkehrt: je abwechslungsreicher, frischer und leckerer, desto besser.