Man hat ihn noch lange in der Überlinger Altstadt gesehen, den Rechtsanwalt Karl Schiess (1914 bis 1999), wie er tagaus, tagein von seinem Wohnhaus in der Von-Mader-Straße zu seiner Kanzlei in der Aufkircher Straße unterwegs war. Zwar schon von Krankheit gezeichnet, war der rast- und ruhelos tätige Jurist bis unmittelbar vor seinem Tod am 8. September 1999 präsenter Teil der Überlinger Gesellschaft. Und er wurde von den städtischen Honoratioren hofiert, schließlich war er der letzte Landrat des aufgelösten Landkreises Überlingen und danach von 1972 bis 1978 baden-württembergischer Innenminister (CDU).
Über sein Leben vor 1945 war bislang kaum etwas bekannt
Karl Schiess galt als Law-and-Order-Politiker. Mit seinem Namen sind die große Kreisreform verbunden, aber auch die Überprüfung der Verfassungstreue der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes („Schiess-Erlass“) sowie die Abhöraffäre von Stammheim. Ins öffentliche Bewusstsein gelangte er freilich erstmals 1956 als frisch gewählter Landrat von Überlingen; über sein Leben von vor 1945 war bislang kaum etwas bekannt.
Karl Schiess tritt 1933 der SA bei
Schauen wir uns daher einmal seine Biografie genauer an: Geboren in Konstanz am 25. März 1914 als Sohn des Zahlmeisters des Infanterie-Regiments Nr. 114, wächst Karl Schiess im katholischen Milieu auf. Nach bestandenem Abitur in Konstanz, wir schreiben das Frühjahr 1933, passt sich der junge Mann der „neuen Zeit“ an. Zum 1. Juni tritt er der SA bei und wird später zum Scharführer befördert.
Zum 1. Mai 1937 wird er Parteimitglied der NSDAP
Zum Wintersemester 1933/34 schreibt sich der junge Mann für das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Freiburg ein, das er nach einem Jahr unterbricht, um sich freiwillig im Konstanzer Regiment zum Reserveoffizier ausbilden zu lassen. Noch vor Entfesselung des Zweiten Weltkriegs wird Schiess zum Leutnant der Reserve befördert; nach eigenen Angaben tritt er der NSDAP zum 1. Mai 1937 bei. Sein juristisches Studium beschließt er mit den beiden Staatsexamensprüfungen.
Scharführer auf der Reichenau
Durch den frühen Tod des Vaters und der Reichenauer Herkunft der Mutter zieht Karl Schiess auf die Insel. Alle seine Vorfahren stammen vom Untersee, insbesondere von Hegne und von der Reichenau. Auf der Insel bestätigt sich Schiess als Scharführer in der SA und zwar unter den Augen des „alten Kämpfers“ und „glühenden“ Nationalsozialisten Eugen Maier (1900 bis 1945), seit 1936 dort Bürgermeister und zugleich Kommunalreferent der Konstanzer NSDAP-Kreisleitung.
Beurteilung als „einsatzbereiter Nationalsozialist“
Karl Schiess wird jetzt auch bei der dortigen Hitlerjugend und bei der NSDAP-Ortsgruppe aktiv: Er hält – laut Gaupersonalamtsakte – „erstklassige Vorträge“. In dieser Akte wird Schiess von Gaupersonalamtsleiter Adolf Schuppel (1895 bis 1946), dem NSDAP-Personalverantwortlichen in Karlsruhe, als „einsatzbereiter Nationalsozialist“ beurteilt. Damit ist die Tür zur badischen Innenverwaltung für den aufstrebenden jungen Juristen weit geöffnet.
Im Krieg an vorderster Front
1940 erfolgt die Einberufung zur Wehrmacht, 1941 heiratet er während eines längeren Sonderurlaubs auf der Reichenau. Aus der Ehe werden drei Töchter hervorgehen; seine ebenfalls von der Insel stammende Frau Maria, eine geborene Wachter, wird 2019 in Überlingen versterben. Leutnant Schiess wird in Frankreich, der Sowjetunion und in Italien an vorderster Front eingesetzt, zuerst als Zugführer, dann 1943 als Kompaniechef im Rang eines Oberleutnants bei der 78. Infanterie- und Sturm-Division, die volkstümlich auch als Bodensee-Division bezeichnet wird.
In Italien gerät Karl Schiess in alliierte Kriegsgefangenschaft, aus der er 1946 entlassen wird. Gleichzeitig wird er als Regierungsrat wegen NSDAP- und SA-Mitgliedschaft rückwirkend aus dem Staatsdienst entlassen. Jetzt in der „Stunde Null“ steht der mittellose Familienvater vor einem beruflichen Scherbenhaufen. Bei einem (wohl verwandten) Reichenauer Landwirt muss er sich 1946/47 als Hilfsarbeiter verdingen. Winters schlägt er auf dem Festland Holz ein.
Im Spruchkammerverfahren heißt sein Anwalt Hans Filbinger
Seine berufliche Zukunft hängt nun an einem seidenen Faden, nämlich dem Ausgang seines Verfahrens in der Entnazifizierung. Vor der Spruchkammer steht ihm der Freiburger Rechtsanwalt Hans Filbinger (1913 bis 2007) bei. Das Urteil vom Juli 1948 lautet „Minderbelastet“, nach den „Hauptschuldigen“ und den „Schuldigen“ immerhin die dritthöchste Kategorie in der gesamten Entnazifizierung. Dieses Urteil wird freilich durch einen Gnadenerweis im August 1950 hinfällig.

Unmittelbar nach dem Gnadenerweis wird er Beamter auf Lebenszeit
1949 kommt er beim Landratsamt Konstanz unter, unmittelbar nach dem Gnadenerweis wird er zum Beamten auf Lebenszeit ernannt. Jetzt kann die Karriere des sozialen Kletterers erneut Fahrt aufnehmen. Zuerst beim badischen Verwaltungsgerichtshof in Freiburg, dann in ähnlicher Funktion in Stuttgart, schließlich im Innenministerium. Sein Wunsch ist der Posten eines Landrats, den er 1956 in Überlingen erlangt. Doch damit ist er längst noch nicht am Ziel angekommen. 1964 wird der CDU-Politiker in den Landtag gewählt, wo er bis 1980 verbleibt.

Ministerpräsident Filbinger holt ihn als Innenminister nach Stuttgart
Der größte Karriereschritt gelingt Karl Schiess 1972, als er von Ministerpräsident Filbinger (eben jenem Rechtsanwalt, der ihn 25 Jahre zuvor im Entnazifierungsverfahren verteidigt hatte) zum Innenminister berufen wird. Jetzt ist der CDU-Politiker auf dem Höhepunkt seiner Macht angelangt. Konsequent treibt er eine Kreisreform voran, die zum 1. Januar 1973 in Kraft tritt. Sie wird auch „Schiess-Plan“ genannt. Mit der Kreisreform wird sein vormaliger Landkreis Überlingen dem Bodenseekreis zugeschlagen. Schiess gilt seither als einer der Väter des neuen Landkreises.
Als Innenminister regiert er mit harter Hand
Als Innenminister sucht er Gesetz und Recht durchzusetzen, er regiert mit harter Hand. Doch die Abhöraffäre von Stammheim beendet seine politische Laufbahn. Warum? Verfassungswidrig werden in der gleichnamigen Justizvollzugsanstalt Gespräche zwischen Mitgliedern der „Roten Armee Fraktion“ und deren Anwälten abgehört. In der „Todesnacht“ vom 18. Oktober 1977 – eine Spezialeinheit hat soeben in Mogadischu die entführte Lufthansa-Maschine „Landshut“ befreit – nehmen sich drei inhaftierte Mitglieder der RAF das Leben. Der Justizminister tritt sofort zurück. Ministerpräsident Filbinger entlässt im Februar 1978 auch seinen Innenminister; Karl Schiess wird durch Lothar Späth (1937 bis 2016) ersetzt. Ironie der Geschichte: Filbinger selbst muss wegen seiner Tätigkeit als Marinerichter noch im selben Jahr ebenfalls zurücktreten.

Die Einschätzung des Historikers Jürgen Klöckler
Wie kann man das Leben von Karl Schiess einordnen? Anlässlich seines 70. Geburtstags schrieb der SÜDKURIER, Schiess sei ein „Politiker mit Leidenschaft“. Ja, zweifellos, das war er. Mit vollem Einsatz kämpfend, willensstark und zäh, schaffte Schiess den Aufstieg bis in die baden-württembergische Landesregierung; er hatte außerdem sehr großes Glück, denn er überlebte als Kampftruppenoffizier den Zweiten Weltkrieg. Zudem hat er den Angelpunkt seines Lebens gemeistert, nämlich seine erfolgreiche Eingliederung in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, die ihm trotz NS-Belastung gelang. Man ahnt, dass nach 1945 ein solches Leben leicht auch ganz anders hätte verlaufen können.