Herr Scharf, warum haben Sie Ihren geplanten Rückzug zurückgezogen?
Ich war immer gerne Bürgermeister und hatte private Gründe, mich zurückziehen zu wollen. Die jetzige Phase, die Krise, wird hoffentlich nicht allzu lange dauern. Aber die Folgen der Krise werden wir mindestens zwei Jahre spüren. Das heißt, es gibt wegbrechende Steuern. Es gibt harte Entscheidungen und Einschnitte in die Finanzen, egal ob es Investitionen sind oder bei den Personalkörpern. Ich möchte deshalb meine Erfahrung zur Verfügung stellen, weil ich finanzielle Krisen durchaus schon bewältigt habe. Jetzt geht es darum, mit einem gut aufgestellten Gemeinderat, die richtigen Dinge für die Stadt zu entscheiden.
Haben Sie eine ähnliche Situation je erlebt?
Die Situation einer Epidemie habe ich Gott sei Dank noch nie erlebt und werde ich hoffentlich auch nie mehr. Die Folgen daraus könnten dann später ähnlich werden, wie bereits Erlebtes – Beispiel Bankenkrise. Was möglicherweise anders wird, ist die Art, wie Bürger miteinander umgehen, von der Beerdigungs-Kultur bis zur Fest-Kultur. Das kann ich nicht prognostizieren.
Wie gehen die Menschen im Augenblick miteinander um?
Derjenige, der vor der Krise ein positiver Mensch war, ist immer noch ein positiver Mensch. Wer vorher negativ war, fällt noch negativer auf. Bei der Gesamtzahl der Bevölkerung merkt man, auch bei mir, die Angst. Ich habe den Eindruck, man geht sich wirklich aus dem Weg.
Wie gesund ist das?
Wenn es auf eine Zeit bis zum Beispiel Weißen Sonntag beschränkt ist, ist das problemlos. Darüber hinaus wird es problematisch. Man kann Zeit überbrücken über Videokonferenzen, aber nur zum Teil. Ein Hobby von mir war immer das Regietheater. Es gehören die Mimik und die Gestik auch dazu.
80 bis 90 Prozent derjenigen, die positiv getestet worden sind, haben das Virus kaum oder als eine kleine Erkältung bemerkt. Wie viel Angst ist sinnvoll vor diesem Virus?
Bei mir ist die Angst sehr groß, weil ich über dieses Thema nichts weiß. Das hatten wir noch nie. Vor der Krisenbewältigung habe ich keine Angst, das kann ich. Ich glaube, so geht‘s eigentlich allen: Zurzeit ist derjenige, der am strengsten ist, der Große. Das sind Dinge, die kennen wir so nicht.
Ein Fall aus dem Kreis: Eine Frau mit drei erwachsenen Kindern hat zusammen gearbeitet mit einer positiv Getesteten. Nach zwei Wochen Quarantäne mit der kompletten Familie wird sie nicht getestet. Warum passiert so was?
In jeder Krise müssen erst Dinge aufgebaut werden. Die Gesundheitsämter sind mit einer Personalquote für das normale Leben ausgestattet. Sie bekommen jetzt zusätzlich extrem viel Personal, das aber eingearbeitet werden muss. Bei jedem Feuerwehreinsatz geht es eine gewisse Zeit, bis die normale Routine einsetzt. Das muss man alles darunter subsumieren. Ich trage seit über 30 Jahren Verantwortung für ein Seniorenpflegeheim. Wenn ich über Angst gesprochen habe – da habe ich Angst. Wenn diese Senioren das Virus bekommen, ist das für ganz viele ein Todesurteil. Und ich kann mein Personal nicht nach Hause schicken. Ich habe kein Ersatzpersonal.
Wie viel Isolation ist für Senioren erträglich?
Die Diskussion führen wir täglich. Und es ist unwahrscheinlich schwierig, diese Verantwortung richtig auszuüben. Wir leben in einer Gesellschaft. Deshalb auch die Wut auf Corona-Partys. Wenn jemand selbstbestimmt in seiner eigenen Wohnung seine Enkel sehen will, ist es etwas anderes, als wenn ich plötzlich ein Virus in einer Senioreneinrichtung habe, an dem viele sterben.
Gibt es für Sie einen Punkt, an dem die Gesundheit, die wir aufrechterhalten durch Kontaktarmut, kippt gegen eine Krankheit, die dadurch gefördert wird, dass die Wirtschaft komplett runtergefahren ist?
Ja logischerweise. Wir müssen ein Zusammenleben insgesamt ermöglichen. Es ist sicher nicht einfach, den Punkt zu finden, ab wann Wirtschaft wichtiger ist als Gesundheit, beziehungsweise wirtschaftlicher Stillstand krank machen kann. Den kann ich jetzt noch nicht definieren.
Sie sind Sprecher der Bürgermeister-Kollegen und auch Vizepräsident des Gemeindetags Baden-Württemberg. Was hören Sie von Kollegen?
Ich habe täglich Kontakt in alle Richtungen und das ist ganz unterschiedlich. Im Landkreis habe ich sehr viele Kollegen entlang der Schweizer Grenze, die Sonderprobleme haben, die es in ganz Baden-Württemberg nicht gibt, auch in wirtschaftlicher Beziehung. Die Kollegen aus den Ballungsgebieten haben riesengroße Probleme, dass sie die Leute eigentlich gar nicht trennen können, weil die per se aufeinander hocken. Unser Gemeindetag gibt an alle Bürgermeister jeden Abend zwischen 19 und 21 Uhr einen Brief mit den Neuigkeiten raus. Ich bin immer schon für das Föderale und es ist klasse, was wir kriegen, damit wir gut entscheiden können.
Wie wichtig ist es gerade in solchen Zeiten, wie der Corona-Krise, dass man föderal, also im Umkreis direkt entscheiden kann?
Entscheidungen gehen in einer Demokratie immer etwas länger. Man muss auch die Zeit bekommen, abzuwägen. Aber wenn Entscheidungen getroffen sind, dann hat man Tausende kleine Entscheidungsträger vor Ort. Die Heimleiterin, der Pflegedienstleiter und, und, und. Das habe ich bei einer zentralen Steuerung nicht. Wenn man den Leuten die Verantwortung wegnimmt, wage ich zu bezweifeln, dass sie dann Lust haben, etwas zu tun.
Was hören Sie hier vor Ort von den Geschäftsleuten?
Die Existenzängste sind extrem zu spüren. Hier gibt es aber auch Betriebe, die laufen in einer Überlast. Das Verrückte ist, dass der eine nicht rumkommt und der andere nicht darf.
Was halten Sie davon, wenn ein Innenminister die Bevölkerung aufruft, Verstöße gegen die Kontaktvermeidung anzuzeigen?
Ich habe mir geschworen, derzeit vor allem das Positive zu sehen – und da gibt es vieles. Die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ist so groß, dass wir sie teils gar nicht in vollem Umfang nutzen können. Zum Innenministerium gehört auch die Polizei, dazu gehöre auch ich als Ortspolizeibehörde. Die Polizei versucht, die schnell gestrickten Rechtsverordnungen durchzusetzen. Und ich glaube, das ist deutlich wichtiger, als solche Empfehlungen.