Rheinfelden Cora, Lina, Seppl und ihre zwei Nachbarn haben bei der Wohnungssuche den Jackpot geknackt: Eine ruhige Lage am Ortsrand, jeder hat ein eigenes kleines Reich und für Miete und Heizung zahlen sie keinen Cent. Und das, obwohl ihre Behausung täglich gereinigt wird. „Igel können richtige Schweine sein“, sagt Manuela Kiefer, während sie Coras Zuhause – eine oben offene Plastikbox, etwa die Größe eines Umzugskartons – mit einem feuchten Lappen routiniert von den Spuren der Nacht befreit. Cora wartet unterdessen in einen Ball zusammengerollt. Sie ist etwa so lang wie ein Unterarm, der Bauch mit beige-grauem Fell, der Rücken mit tausenden Stacheln bedeckt.
Ein schwerer, aber nicht beißender Geruch liegt in der Luft. Es riecht nach Kaninchenstall. „Aber heute wart ihr alle besonders sauber, als hättet ihr gewusst, dass wir Besuch bekommen.“ Wie zu einem Singsang verwandelt ist Manuela Kiefers Stimme, wenn die Tierretterin zu ihren fünf Zöglingen spricht. Sie betreibt eine private Igelpflegestelle in Minseln. Es ist die Einzige in der Umgebung.
Es bräuchte mehr Igelstationen
Bedauern und Sorge schwingen in ihrer Stimme mit. Denn es bräuchte mehr Igelstationen. Krankheiten, Verletzungen, Parasitenbefall: Es gibt viele Gründe, warum die kleinen Säugetiere auf Hilfe angewiesen sein können. Allein Manuela Kiefer pflegt in einem kleinen Zimmer ihrer Dachgeschosswohnung mehr als 200 kranke Igel pro Jahr wieder gesund – eine Verpflichtung, die die 34-jährige gelernte Einzelhandelskauffrau permanent auf den Beinen hält. Täglich umsorgt sie die Tiere, putzt ihre Behausungen, bereitet Essen zu, verabreicht Medikamente. „Wenn ich es nicht mache, macht es keiner“, tut sie die Frage ab, ob es nicht manchmal zu viel wäre. Im Urlaub war die Mutter eines zweijährigen Sohnes seit Jahren nicht mehr. Ein Streichelzoo ist die Igelpflegestelle nicht. „Igel sind Wildtiere, keine Haustiere. Ich pflege sie so weit gesund, dass sie in der Natur wieder eine Chance haben. Ein Igel in Gefangenschaft geht gar nicht“, sagt die Tierschützerin.
Ein dreckiges Handtuch wandert aus Coras Zuhause in einen großen Sack. Aktuell stehen fünf der großen Igel-Boxen dicht an dicht in dem warmen Zimmer auf dem Boden; außer einem gelegentlichen Rascheln deutet nichts darauf hin, dass unter Handtüchern und Zeitungsschnipseln stachlige Patienten leben. Im Herbst, wenn die Igel Richtung Winterschlaf gehen sollten, ist allerorts Hochsaison in den Pflegestellen. Denn dann stoßen aufmerksame Finder auf zu spät geborene Jungtiere. Sie sind meist zu klein und schmächtig, um ihren ersten Winter zu überstehen und landen bei Menschen wie Manuela Kiefer. So auch Cora. Sie kam als Notfall im November in die Igelpflegestelle, gerade etwas über 200 Gramm wog sie damals. Dem Tod war sie näher als dem Leben – normal sind für ein ausgewachsenes Tier laut dem Igelschutzverein Pro Igel bis zu 1500 Gramm. Von Bauarbeitern wurde sie gefunden, vermutlich war sie verschüttet worden, erinnert sich Manuela Kiefer, während sie ihren Lieblingsigel vorsichtig mit Latexhandschuhen in die frisch gesäuberte Box setzt. Cora dankt es ihr, indem sie sich schnell wieder in ihrer „Igelgarage“ verkriecht. Diese Höhlen aus buntem Stoff haben Freiwillige zusammengenäht. Heute geht es Cora wieder gut, in wenigen Wochen wird sie die Pflegestelle verlassen können. Die Freude in Manuela Kiefers Stimme ist unüberhörbar, wenn sie das erzählt.
Wenn möglich, werden Cora und ihre Artgenossen dort ausgesetzt, wo sie gefunden wurden. Längst leben die Tiere mehrheitlich in Wohnsiedlungen und Gärten. Doch ihre Lebensräume sind mehr und mehr in Gefahr: Intensive Landwirtschaft, Flächenversiegelung, Schottergärten – all das hat Folgen. 2024 wurde der Igel erstmals auf die Rote Liste der bedrohten Arten aufgenommen. Die Weltnaturschutzunion stufte ihn als potenziell gefährdet ein, seine Bestände seien in Europa in den vergangenen zehn Jahren je nach Schätzungen zwischen 16 und 33 Prozent zurückgegangen. Natur- und Tierschutzorganisationen rufen dazu auf, im Garten wilde Ecken stehen zu lassen. Dort können Igel Schutz und Nahrung finden. Manuela Kiefer würde sich wünschen, dass mehr Menschen Rücksicht auf die Tiere nehmen: „Zieht die Zäune nicht bis auf den Boden runter, dann passen die Igel noch drunter durch.“
Igel vertragen keine Milch
„So, fertig, meine Süße“, sagt sie. Ein Napf frisches Wasser und Katzenfutter finden noch ihren Weg in Coras Zuhause. Hochwertiges Futter, mindestens 60 Prozent Fleischanteil, ohne Zucker, ohne Getreide. Das können die Igel nicht verwerten. Genauso wie Milch; Igel sind laktoseintolerant: Diese Regeln sollte man auch beachten, wenn man Igel im Garten mit Nahrung unterstützen will. Manuela Kiefer kennt sich aus mit ihren Patienten. Die Tierretterin hat Schulungen besucht, in einem wandhohen Regal liegen neben Paletten an Futterdosen, Wärmekissen und Medikamentenschachteln diverse Nachschlagewerke – und eine Sammlung Patientenakten. Darin listet sie die Fortschritte ihrer Zöglinge auf. „Tschi. Tschi. Tschi“ – aus einer anderen Box ist ein leises Geräusch zu hören, irgendwo zwischen einem leisen Niesen und einem hohen Pfiff. „Das ist Seppl. Er hat Husten“, sagt Manuela Kiefer, ohne sich nach den Lauten umdrehen zu müssen. Seppl fehlt ein Auge, eine Verletzung im Gaumen machte ihn zusätzlich krank. Jetzt bekommt er Antibiotika in Rücksprache mit den Tierärzten. Ohne deren Hilfe ginge es nicht, betont die Tierschützerin. Aber: Die Sachkenntnis und die Zeit fehlten oft. Und so übernimmt sie vieles selbst, vom Spritzen von Medikamenten über die Handaufzucht von Jungtieren bis zu regelmäßigen Kotuntersuchungen unter dem Mikroskop. Dafür steht in der anderen Ecke des Raumes unter einer Dachschräge ein kleiner Tisch. Nur der fest montierte Spiegel, eingerahmt von kleinen Lichtern, verrät noch, dass es sich einmal um einen Schminktisch handelte.
Um Parasiten aus dem Igelfell zu kämmen, benutzt Manuela Kiefer einen Wimpernkamm. „Das geht erstaunlich gut“. Berührungsängste hat die 34-Jährige nicht. Aber richtig eklig ist es manchmal doch, gesteht sie lachend. „Meine Sauigel können richtig stinken.“ Dann wird sie wieder ernst: „Aber ich tue es für den Artenschutz. Und für jedes einzelne Tier.“ Geld verdient sie mit der Igelpflege nicht, im Gegenteil. Das Tierheim Rheinfelden unterstützt mit Spenden, für alles Weitere greift die Igelpflegerin in die eigenen Taschen. Ihr großer Traum ist eine Igelstation mit eigenem Behandlungsraum und Quarantänestation – im Dachgeschoss im Haus ihres Lebensgefährten. Dafür spart sie aktuell Geld. „Mehr Platz heißt mehr gerettete Igel. Und vielleicht kann ich dann auch mal andere Freiwillige beschäftigen.“