Frau Schmitz, Sie sind habilitierte Philosophin. Ihr Buch mit dem Titel „Was ist ein lebenswertes Leben“ ist aber kein reines Fachbuch. An wen richtet sich Ihr Essay?
Eigentlich an alle, die einmal in irgendeiner Form diesem Thema begegnen. Manchmal ist man herausgefordert, eine Antwort zu finden, zum Beispiel, wenn man einen dementen Angehörigen hat, bei dem sich fragt, ob das Leben jetzt noch lebenswert ist. Oder wenn man im Laufe eines Lebens eine Behinderung bekommt und sich dann diese Frage stellt. Oder auch wenn man im Rahmen einer pränatalen Diagnostik eine entsprechende Diagnose bekommt und sich fragt, ob das Kind ein lebenswertes Leben haben wird.
Am Anfang habe ich gedacht, das wäre vor allem eine Frage für Menschen, die in solch besonderen Situationen sind. Inzwischen glaube ich aber, dass es sich um eine menschliche Grundfrage handelt, die sich jeder irgendwann mal in seinem Leben stellt. Ich selbst wäre niemals so mutig gewesen, darüber ein Buch zu schreiben, wenn ich nicht irgendwann angefragt worden wäre dazu einen Vortrag bei einem medizinischen Kongress zu halten. Ich habe mich dann entschlossen, ein Buch zu schreiben, das sich nicht primär an Fachphilosoph*innen richtet, sondern an jeden Menschen.
Sie sagen, dass es in der Philosophie so gut wie keine direkte Auseinandersetzung mit dem Thema gibt. Warum, meinen Sie, ist das so?
Über das gute Leben, das würdige Leben, das erfüllte Leben gibt es ganze Bücherwände voll in der Philosophie. Über das lebenswerte Leben gibt es praktisch nichts. Ich glaube, das hängt mit der Geschichte des Begriffs „lebensunwertes Leben“ zusammen. Der Begriff wurde von den Nationalsozialisten als Rechtfertigung benutzt wurde, um hunderttausende Menschen grausam zu ermorden. Dabei wurde dann perfiderweise auch noch behauptet, dass man aus Mitleid töte. Ich denke, jeder, der sich mit diesem Begriff lebenswertes Leben auseinandersetzt, muss sich mit diesen Tötungen und ihrem philosophischen Hintergrund auseinandersetzen und sich fragen, was man daraus lernen kann. Jeder Versuch anhand irgendwelcher Kriterien zu sagen, dieses Leben ist lebenswert und jenes ist es nicht, ist ethisch abzulehnen.
Dann bleiben eigentlich nur zwei andere Wege: Entweder anzunehmen, dass alles Leben lebenswert ist. Das ist die Position vieler Religionen. Mich hat dann ein anderer Weg interessiert. Ich habe mich für einen Zugang entschieden, bei dem man die subjektiven Aussagen von Menschen ins Zentrum stellt. Was sagen Menschen mit schweren Behinderungen oder chronischen Krankheiten oder Demenz über ihr Leben?
In ihrem Buch stehen Erfahrungsberichte von Menschen in schwierigen Situationen im Vordergrund. Was kann man von diesen Menschen lernen?
Ich glaube, man erkennt als erstes, wie eng die eigenen Vorstellungen sind. Und wie viele Vorurteile man hat. Wie sehr man an bestimmten Begriffen wie Selbstständigkeit oder Autonomie hängt und wie sich diese Vorstellungen, Vorurteile, Stereotype ändern können. Wenn ich heute denke, dass es wichtig ist, dass ich mich selbstständig waschen kann, dann ist das, wenn ich in eine solche Situation komme, vielleicht gar nicht mehr so wichtig. Dann kann sich meine Autonomie auf ganz andere Bereiche verlagern. Als zweites lernt man aber auch, dass bestimmte gesellschaftliche Werte wie Leistung und Erfolg in Frage gestellt werden. Das lebenswerte Leben bemisst sich gerade nicht an solchen Werten. Drittens hat mich eine Äußerung von einem Betroffenen des Locked-in-Syndroms sehr stark beschäftigt. Er beschrieb mir, wie die Erkrankung dazu führe, dass einem alle Fähigkeiten genommen würden. Genau dann, so fügte er hinzu, könnte man aber auch erkennen, welchen Wert das Leben selbst hat.
Bei Menschen mit ganz starken Behinderungen trifft man oft eine ganz tiefe Freude am Leben, die vielen Menschen in der Hektik des Alltags verloren geht. Das ist vielleicht auch das, was ich durch das Leben mit meiner Tochter gelernt habe. Sie hat zu dem Gefühl zu leben einen ganz anderen Zugang, als ich ihn oft habe. Davon kann ich viel mitnehmen.
Also kommen sie doch auch zu dem Schluss, dass jedes Leben lebenswert ist? Was ist mit Menschen, die keinen Wert mehr in ihrem Leben sehen?
Ob jedes Leben lebenswert ist, weiß ich nicht. Das ist bei einem solch subjektiven Zugang nicht die Frage. Aber: Wenn eine Person sagt: „Mein Leben ist nicht lebenswert“, dann müssen wir das unbedingt ernst nehmen. Das kann niemand besser wissen, als diese Person selbst. Die daran anschließenden Fragen sind dann aber: Was ist der nächste Schritt? Wie gehen wir damit um? Zu kurz gegriffen scheint mir, wenn man dann sagt: „Dein Leben ist nicht mehr lebenswert für dich und jetzt ist es auch besser für dich, wenn du nicht mehr lebst“. Vielmehr sollte diese Äußerung zu der Frage führen: Was können wir tun, damit diejenige aus ihrer Perspektive das Leben wieder als lebenswert ansieht? Was können wir dazu an gesellschaftlichen Bedingungen verändern? Welche Art von Hilfen sind vielleicht notwendig?
Wenn zum Beispiel, eine ältere, vereinsamte Frau sagt, dass ihr Leben nicht mehr lebenswert ist sollte man schauen, inwiefern das auch an den gesellschaftlichen Bedingungen liegt, die zur Vereinzelung führen. Wie kann man der Frau helfen, dass sie selbst wieder eine andere Haltung zu ihrem Leben bekommt? Wie kann man ihr zu Kontakten, zu einer Aufgabe verhelfen? Wenn wir so fragen, ist die gesellschaftliche Aufgabe viel größer. Es mag sein, dass es am Schluss wirklich Fälle gibt, in denen man versucht hat zu helfen und man hat keinen Erfolg. Dann müssen wir das wahrscheinlich so weit akzeptieren. Aber der Schritt vorher, der scheint mir sehr wichtig. Der geht, glaube ich aber, in der Sterbehilfe-Diskussion unter.
Ihr Essay fußt auf eigenen Erfahrungen. Sie haben Ihre Schwester durch Suizid verloren und sind Mutter einer Tochter mit geistiger Beeinträchtigung. Wie bringen Sie Wissenschaft und die Subjektivität der eigenen Gefühle zusammen?
Ich denke, das lässt sich wunderbar in Einklang bringen. Gerade die Philosophie kann von Menschen lernen, die in schwierigen Situationen sind. Sie hat eine Tendenz dazu, Menschen mit geistiger Behinderung, alte oder demente Personen auszuklammern. Ich denke, die Philosophie kann davon profitieren, wenn sie diese Menschen mit einbezieht. Ich selber habe aber natürlich auch beim Umgang mit meiner Tochter von der Philosophie profitiert. Zu Beginn war es für mich noch ein ungewohnter Schritt, Philosophie und persönliche Erfahrungen zu verbinden. Heute ist es für mich selbstverständlich.