Es ist am Ende eines langen Gesprächs, als die evangelische Diakonin und Altenheimseelsorgerin einen Satz sagt, der Fragezeichen hinterlässt. Claudia Tissler-Buhr, die seit Beginn der Pandemie alles tut, um bei den Senioren zu sein, die Videogottesdienste drehte, mit der Posaune vor den Häusern spielte, die in Schutzmontur Sterbende begleitete, sie sagt: „Die Kinder und Jugendlichen sind die Zukunft, die Senioren haben ihr Leben gelebt, das sagen sie mir. Wir müssen für die Kinder aufstehen!“

Mai 2020: Claudia Tissler-Buhr übergibt einen Speicherstick mit dem Videogottesdienst am Margarete-Blarer-Haus.
Mai 2020: Claudia Tissler-Buhr übergibt einen Speicherstick mit dem Videogottesdienst am Margarete-Blarer-Haus. | Bild: Claudia Wagner

Die Worte haben Zündkraft, weil sie ähnlich auch aus Kreisen kommen, in deren Nähe Claudia Tissler-Buhr sich so gar nicht sieht. Coronaleugner, Querdenker, Impfgegner. Warum sagt sie dennoch einen Satz, der aus dem Kontext genommen klingt, als würde sie ein Leben gegen das andere aufwiegen?

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Sie wirkte ganz anders als sonst

Es war im Februar, als sie nach einem Gottesdienst im Blarerhaus an einem Tisch saß und in sich gekehrt wirkte, ganz anders als sonst. „Ich mache mir solche Sorgen um die Kinder und Jugendlichen, um die Seelen“, sagte sie. Die Seelsorgerin gibt auch Religionsunterricht an Grundschulen. Sie selbst hat zwei Söhne, einen Studenten, einen Elftklässler. Mit vielen Eltern ist sie in Kontakt.

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Also treffen wir uns zum Gespräch in ihrem Büro. Ein Dienstzimmer so lang wie hoch. Claudia Tissler-Buhr ist nicht oft dort, die meiste Zeit ist sie unterwegs. Das evangelische Altenheim „Margarete Blarer“ ist 750 Meter von ihr entfernt, auch die 210 Meter zum katholischen St. Marienhaus kann sie laufen.

Claudia Tissler-Buhrs Dienstfahrrad. Sie ist die meiste Zeit unterwegs.
Claudia Tissler-Buhrs Dienstfahrrad. Sie ist die meiste Zeit unterwegs. | Bild: Eva Marie Stegmann

Auf dem einfachen Eckschreibtisch brennt ein Tee-Licht, es riecht nach frisch gekochtem Kaffee. Die Bibel ist aufgeschlagen, das Buch Matthäus: Jesus heilt einen Gelähmten, zwei Blinde, einen Stummen und weckt eine Tote auf. Zu den Jüngern sagt er: „Macht Kranke gesund … Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebt es auch“.

„Jesus wäre zu den Kranken gegangen!“

„Ja, was hätte Jesus wohl getan in der Pandemie?“, fragt Claudia Tissler-Buhr und antwortet sich gleich selbst: „Jesus wäre losgegangen. Zu den Kranken und Aussätzigen.“ Obwohl viele ihr abrieten, ging sie in der Hochphase der Pandemie in die Seniorenheime. Im Ohr hatte sie noch die ältere Dame, die am Tag vor dem Lockdown im Marienhaus zu ihr sagte: „Wenn es keinen Gottesdienst mehr gibt, das wäre schlimm, das ist die Kraftquelle für meine Seele“.

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Tissler-Buhr war so nah dran an den Senioren wie kaum eine, hatte Einblicke in das Leben während der Isolation. Dass sie sagt „Die Senioren haben ihr Leben gelebt, die Kinder sind die Zukunft“, sagt sie nicht trotz dessen, sondern auch deshalb.

Februar 2021: Wieder vor Ort Gottesdienst im Margarete-Blarer-Haus mit Claudia Tissler-Buhr. Paradies. Senioren. Corona.
Februar 2021: Wieder vor Ort Gottesdienst im Margarete-Blarer-Haus mit Claudia Tissler-Buhr. Paradies. Senioren. Corona. | Bild: Eva Marie Stegmann

Sobald Tissler-Buhr von den Erlebnissen im Heim erzählt, senkt sie ihre sonst deutlich vernehmbare Stimme. „Ich habe Menschen an Einsamkeit sterben sehen“, sagt sie. Das Besuchsverbot im März 2020 führte zu einem Frühling ohne Freunde und Verwandte für die Menschen, die nicht wissen, wie viel Zeit ihnen das Leben noch gibt. Nicht einmal ein Spaziergang war drin.

Sogar Ministerpräsident Winfried Kretschmann bezeichnete diese Zeit auf einer Pressekonferenz Ende 2020 im Rückblick als „Eine Umdrehung zu viel“.

„Menschen starben allein“

Schlug das Virus in einem Heim zu, warteten die Senioren Tag und Nacht allein in ihren Zimmern. Damals hätten sich manche aufgegeben, sagt die Seelsorgerin. Irgendwann nicht mehr nach den Pflegern geklingelt, seien lethargisch geworden.

„In einem Zimmer“, Tissler-Buhr deutet auf Boden und Decke ihres Büros, „so groß wie dieser Raum.“ Was sie erlebte, hat sie schockiert. Und verändert. Nachts habe sie kaum geschlafen in Gedanken an die einsamen Männer und Frauen. „Menschen starben allein, ohne Angehörige. Das darf nie wieder passieren!“

Juni 2020: Erster Freiluft-Gottesdienst im Garten eines Pflegeheims.
Juni 2020: Erster Freiluft-Gottesdienst im Garten eines Pflegeheims. | Bild: Scherrer, Aurelia

Altenheime sind der Ort für die letzte Lebensphase. Es wird gestorben, mit oder ohne Virus. „Die Menschen dort sehen den Tod oft sehr realistisch, aber im Heim ist viel Leben – und dieses Leben wurde ihnen genommen“, berichtet Tissler-Buhr.

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Die Senioren seien es auch, die an die Jugendlichen denken. Sie zitiert eine 81-Jährige aus dem Marienhaus: „Wissen Sie, ob ich 81 oder 82 bin, mein Leben ändert sich nicht mehr viel. Aber ob ich 16 oder 17 bin, das ist ein himmelweiter Unterschied. Die wollen doch Leben erfahren!“ Oder ein 90-Jähriger: „Warum werde ich zuerst geimpft? Ich habe noch fünf oder zehn Jahre, aber mein Leben habe ich gelebt.“

Sie selbst dürfe so etwas ja nicht sagen ...

Sie selbst, sagt Tissler-Buhr, dürfe so etwas ja nicht sagen. Sie macht eine Pause. Dann schießt es aus ihr heraus: „Die Kinder und Jugendlichen müssen raus! Seit über einem Jahr, mit wenigen Unterbrechungen, können sie sich nicht ausprobieren in Gruppen, sie dürfen keinen Sport mehr machen, die Schule war die meiste Zeit zu. Nach dem Abschluss stehen sie vor einer ungewissen Zukunft. Ich erlebe in meiner Arbeit, wie sehr das Homeschooling Familien belastet, seelisch.“

„Weil sie keine Wähler sind?“

Es sei, als hätte die Politik die Kinder und Jugendliche einfach vergessen. „Vielleicht, weil sie keine Wähler sind? Warum wird bei Daimler gearbeitet, während die Schüler stundenlang zuhause vor den Laptops sitzen müssen?“, fragt sie.

Bild 5: „Die Senioren sagen, sie haben ihr Leben gelebt. Wir müssen für die Kinder aufstehen“, sagt diese Konstanzer Altenheimseelsorgerin
Bild: Eva Marie Stegmann

„Und trotz allem haben sie sich in einer vorbildlichen Weise an die Regeln gehalten – für eine Krankheit, die sie in den allerwenigsten Fällen betrifft.“ 40 Prozent aller Covid-19-Toten, das bestätigte das Sozialamt im Februar, waren in Altenheimen zu beklagen. Andererseits steht die neue britische Virusvariante B 1.1.7. im Verdacht, vor allem Jüngere zu infizieren.

Neues Denunziantentum gegen Jugendliche?

Und der Dank für die Kinder und Jugendlichen für ihre Rücksicht? Tissler-Buhr ist frustriert: „Keiner. Im Gegenteil.“ Stattdessen beobachte sie ein neues Denunziantentum. „Ein Beispiel: Drei Jugendliche, die ich kenne, haben Sport im Wald gemacht. Ältere Wanderer riefen die Polizei, weil man nur zu zweit Sport treiben darf. Und die sind gekommen!“, empört sie sich.

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Sie wünscht sich, dass mehr Menschen aufstehen und für die Kinder sprechen, an die psychosozialen Folgen denken. Schutzmasken, Schnelltests, Luftfilter – alles sei da, um trotz Pandemie Präsenzunterricht für alle abhalten zu können.

Das schöne Wetter mache Sport im Freien möglich. Besuche von Parks, Schwimmbädern. Sie ist nicht alleine: Immer mehr erheben die Stimme für Kinder und Jugendliche. Und die deutschen Jugendämter forderten schon Ende 2020 eine personelle Aufstockung.

Als Coronaleugner bezeichnet zu werden, macht sie traurig

Einmal haben ihr Bekannte vorgeworfen, dass sie in die Ecke der Coronaleugner gehe. Das hat die Seelsorgerin traurig gemacht. Ein Leben gegen das andere aufwiegen? Darum geht es ihr nicht. „Ich schätze wirklich jedes Leben“, betont sie. „Und wir predigen an Ostern die Kraft der Auferstehung. Entweder predigen wir es, oder wir leben es auch! Wir haben einen großen Gott, wir haben große Hoffnung.“

Dezember 2020: Der kleine Posaunenchor ist zu Gast, Claudia Tissler-Buhr hält Gottesdienst im Freien, ihr Ehemann beschirmt sie.
Dezember 2020: Der kleine Posaunenchor ist zu Gast, Claudia Tissler-Buhr hält Gottesdienst im Freien, ihr Ehemann beschirmt sie. | Bild: Nikolaj Schutzbach

Leben – im Margarete-Blarer-Haus zum Beispiel sei wieder viel davon nach der Phase der Isolation. „Der Sozialdienst macht‘s möglich: Filme schauen, tanzen, arbeiten mit Ton.“ Die Senioren seien wieder aufgeblüht, das Heim komplett geimpft.

Unterdessen musste Ministerpräsident Winfried Kretschmann seine Pläne, die Schulen nach Ostern wieder zu öffnen, stoppen. Grund sind die anhaltend hohen Infektionszahlen: Zuletzt haben sich in Baden-Württemberg innerhalb einer Woche 130 von 100.000 Einwohnern neu mit dem Virus angesteckt.

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Das Land stellt in Aussicht, ab dem 19. April für alle Klassen Wechselunterricht anbieten zu können. „Sofern es das Infektionsgeschehen zulässt“, so Ministerialdirektor Michael Föll.