Auf einer der Türen im Verwaltungstrakt des Seniorenheims klebt ein Zettel mit schwarzen Lettern: „Es ist wie es ist.“ Damit ist alles gesagt.
Schritte hallen über den Flur, schon steht Erika Fuchs vor einem. Sie ist die Leiterin des Margarete-Blarer-Hauses, eine zugewandte Frau mit Lockenkopf, die gerne lacht. „Ich funktioniere“, sagt sie jetzt auf die Frage, wie es gehe. Kein Lächeln unter der FFP2-Maske, das die Augen erreicht.
2020 war kein gutes Jahr für das Blarer-Haus
Das Heim wurde wie kaum ein anderes in der Stadt von Corona getroffen. Es gab zwei Ausbrüche. Beim letzten waren über 50 Bewohner und Mitarbeiter infiziert, das ist mehr als die Hälfte. Einige sind gestorben. Das war in den letzten Monaten von 2020. Vor der Hoffnung auf Heilung durch den Impfstoff, vor Ende der Besuchsverbote.
Das Blarer-Haus ist eigentlich einer dieser Orte, die einem die Angst vorm Alt-Werden nehmen. So liebevoll sorgt sich das Team um seine Bewohner und für stetige Abwechslung im Alltag.
Im Foyer ist es stiller geworden
Doch jetzt fühlt es sich an, als liege ein grauer Schleier über der Einrichtung – trotz der bunten Narrenbändel, die in der Fasnachtszeit das Foyer schmücken. Im Foyer, sonst Treffpunkt für die Seniorinnen und Senioren, ist es still geworden, man verbringt viel mehr Zeit auf dem Zimmer. Der Haupteingang ist versperrt – verhüllt mit dunkler Plastikplane. Es sieht aus wie ein Würfel, ein hässlicher Fremdkörper mitten im Raum. Sie nennen es das schwarze Loch.
Jutta Reimann lehnt im angenehm eingesessenen Sofa dahinter. Sie ist eine schicke Frau. Früher arbeitete sie auf der Bank am Schalter. Sie gönnt sich gerne etwas.
Erst am Morgen war sie mit ihrer Freundin Eva spazieren, zum See, dann zum Bäcker, eine Brezel für Eva, eine Nussstange für Frau Reimann. Auch sie war in der schlimmen Zeit an Covid-19 erkrankt, symptomlos. Wie Nacht für Nacht Notärzte und später Leichenwagen vorm Haus standen, hat sie kaum mitbekommen.
„Sie haben uns schon ein Jahr gestohlen“
Sie war in ihrem Zimmer in Quarantäne – kein gemeinsames Essen, kein Spaziergang, kein Spieleabend – zu ihrem Schutz. „Das war fürchterlich! Sie haben uns schon ein Jahr gestohlen. In unserem Alter.“ Ihr gegenüber sitzt Marelies Noll und nickt. „Ich wache jeden Tag auf und habe Angst, dass der Virus im Haus ist.“
Hat sie Angst, zu erkranken? „Nein, ich habe Angst, dass wir wieder auf die Zimmer müssen“, antwortet sie. „Dass man jetzt wieder gemeinsam frühstücken kann, macht mir Freude“, sagt die 80-Jährige und lächelt unter ihrem schulterlangen, grauen Haar ein bisschen wie ein junges Mädchen.
Die Knochen hätten arg gelitten in der Quarantäne, endlich gibt‘s auch wieder Gymnastik. Was würden Jutta Reimann und Marelies Noll den Politikern, die die Regeln gemacht haben, gerne sagen?
„Am besten Schweigen. Die wissen doch alles besser.“
„Na, alles negativ?“
Plötzlich unterbricht eine fröhliche Stimme das Gespräch. Claudia Tissler-Buhr tritt an die Sitzecke heran. „Na, alles negativ“, sagt sie in Anspielung auf den Schnelltest, den sie gerade am Eingang gemacht hat. Die evangelische Diakonin wird heute zusammen mit Pater Fritz Kretz einen ökumenischen Gottesdienst halten.
Jede Woche ist sie im Margarete-Blarer-Haus – in der Mission Hoffnung. „Frau Fuchs und ihr Team sind da ganz sehr hinterher gewesen, dass wir so bald es möglich war wieder Live-Gottesdienste machen“, sagt sie. In der Zeit davor brachte Tissler-Buhr den Segen und das Gebet per Video.
Die Stühle sind in zwei Metern Abstand schon aufgestellt, Liederblätter werden verteilt. Eine der ersten, die Platz genommen hat, ist Ilse Aprell. Sie ist das Wunder vom Blarer-Haus. Die 94-Jährige war schwer an Corona erkrankt und lag im Sterben. Irgendetwas in ihr wollte nicht gehen und zerrte sie zurück ins Leben.
Der Glaube gibt ihr Kraft, sagt sie. Claudia Tissler-Buhr sagt, der Gottesdienst sei immer gut besucht. Dann geht es los: Etwas mehr als eine halbe Stunde zelebrieren die gut 20 Senioren, Pfleger, Claudia Tissler-Buhr und Pater Fritz Kretz die Nächstenliebe, den Glauben, die Hoffnung. Vor allem aber die Hoffnung.
Als das alte Lied „Von guten Mächten treu und still umgeben“ durch das Foyer hallt, fühlt es sich einen Moment lang an, als sei alles ganz leicht.
Das Wunder vom Blarer-Haus
Nach der Feier spricht Tissler-Buhr in der Sofaecke mit einigen Bewohnerinnen des Seniorenheims. Auch Frau Aprell ist dabei. Sie sieht schön aus mit ihren feinen Gesichtszügen, ein französischer Zopf ziert ihr weißes Haar.
Aber sie wirkt bedrückt. „Wie soll ich mich unter diesen Umständen erholen?“, fragt sie. Es fühle sich an, als ob in ihrer Lunge ein Loch sei, klagt sie. Die Beine täten weh vom Liegen. In den Augen sammeln sich Tränen. Claudia Tissler-Buhr fragt betont fröhlich, wo Ilse Aprell denn eigentlich herkäme.
Die Augen leuchten plötzlich
Ach, aus dem Hegau? Plötzlich leuchten Frau Aprells Augen und sie beginnt, ein altes Gedicht aufzusagen. „Engen, Tengen, Blumenfeld, sind die schönsten Städt´ der Welt“, den Spruch kennt jeder, aber die Seniorin kennt auch alle anderen Strophen. „Toll“, ruft Claudia Tissler-Buhr.
Sie sagt: „Frau Aprell ist unser Wunder, nicht?“ Die Seniorin zuckt die Schultern, hebt die Arme und sagt: „Vielleicht hat der Herr auch bald einen Platz für mich.“ „Ach, Frau Aprell“, lacht Claudia Tissler-Buhr und streichelt der 94-jährigen Dame über den Arm.
Später sitzt sie alleine bei einem Kaffee und ist nicht mehr so fröhlich. Sie erinnert sich an die Zeit des schlimmen Coronaausbruchs. „Ich bin nachts aufgewacht und habe geweint. Das hat mir das Herz gebrochen, die Menschen in ihrer Isolation.“ Ein Senior sei in der Zeit an Einsamkeit gestorben, ist sie sicher. „Ich finde, das hat die Menschen verändert.“
Und nun? Die Welt wartet, dass das Leben weiter geht. Alle warten, aber keiner wartet wie der andere. Manche haben die Zeit dafür. Anderen bleibt nur noch wenig.