Die Hiobsbotschaft kam kurz vor Weihnachten. In einem Schreiben an alle Familien, die ihre Kinder in städtischen Einrichtungen betreut haben, kündigt die Radolfzeller Stadtverwaltung an, im neuen Jahr die Angebote der Kitas grundsätzlich neu berechnen zu wollen. Heißt: Die Betreuungszeiten in den Kindertageseinrichtungen werden sich dauerhaft ändern und – davon sind die Eltern überzeugt – kürzer werden.

Grund dafür sind wieder Personalengpässe und der konstant hohe Krankenstand in den Kitas. „Für uns ist das eine absolute Katastrophe“, sagt Lea Burkard. Sie ist im Elternbeirat der Kinderkrippe Entdeckerkiste und im Gesamtelternbeirat Kita aktiv. Und ihr und vielen anderen, vor allem berufstätigen Eltern, reicht es jetzt. Bereits seit Beginn des Kita-Jahres sei die Betreuungssituation in der Entdeckerkiste das reinste Chaos gewesen, berichtet Lea Burkard.

Vollzeitplatz war noch nie verfügbar

Ihre Tochter Emma, die eigentlich einen Ganztages-Betreuungsplatz hat, habe die volle Zeit bis 17 Uhr in der Kita nicht einmal bisher erleben dürfen. Stattdessen gebe es beinahe wöchentlich, wenn nicht täglich, geänderte Zeiten, verkürzte Öffnungszeiten oder die komplette Absage der Betreuung für einen oder mehrere Tage.

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„Ich kann den Satz ‚Wir bitten um Verständnis‘ nicht mehr hören“, sagt Alina Dorn-Löscher, deren Sohn Raffael ebenfalls in die Entdeckerkiste geht. Diese kurzfristigen Änderungen und Absagen würden nicht nur das Familienleben belasten. Man könne es auch weder seinem Arbeitgeber noch den Kollegen irgendwie erklären, warum man schon wieder ausfalle oder früher gehen müsse. „Diese Situation hier kostet langsam Jobs“, so Alina Dorn-Löscher.

Lage scheint sich auch 2023 nicht zu verbessern – im Gegenteil

Dabei hatten und haben die Eltern bisher sehr viel Verständnis gehabt. „Die Erzieher und Erzieherinnen in den Einrichtungen können nichts dafür und bekommen doch oft den Frust ab“, sagt Vanessa Treutlein. Ihre Tochter Malina geht in die Villa Sonnenschein in Markelfingen und auch dort ist seit Monaten keine konstante Betreuung möglich. Was die Eltern besonders ärgert ist, dass sich die Lage auch im neuen Jahr nicht zu bessert und die Stadt nun die Betreuungszeiten kürzen möchte.

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In der Kita Entdeckerkiste zum Beispiel sollen die Öffnungszeiten laut Information der Stadtverwaltung von 7 bis 15 Uhr statt von 7 bis 17 Uhr reduziert werden. Familien können dieses Angebot an maximal drei Tagen in der Woche in Anspruch nehmen. „Das ist für mich nicht machbar, ich arbeite an vier Tagen in der Woche“, sagt Lea Burkard.

Die Kinderkrippe „Entdeckerkiste“ in der Radolfzeller Nordstadt. Auch hier fehlt es momentan an Personal.
Die Kinderkrippe „Entdeckerkiste“ in der Radolfzeller Nordstadt. Auch hier fehlt es momentan an Personal. | Bild: Jarausch, Gerald

Lösungsvorschläge der Eltern ohne Ergebnis

Doch wollten die Eltern der Entdeckerkiste nicht einfach nur motzen, sie haben aktiv mit der Stadt zusammen nach Lösungen gesucht und versucht, sich einzubringen. Es habe bisher drei Termine gegeben, an denen der Elternbeirat und Vertreter der Stadtverwaltung versucht haben, Ideen und Konzepte zu entwickeln, wie man die Lange für Eltern kurzfristig entschärfen könne und wie man mittelfristig mehr Personal für die Einrichtungen gewinnen könne. Das Fazit der Eltern fällt allerdings etwas nüchtern aus.

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„Bei fast allen Vorschlägen hieß es sofort, nein, das geht nicht, das darf man wegen der Satzung oder den rechtlichen Vorgaben nicht“, fasst Rachel Long ihren Eindruck zusammen. Eine Idee sei es gewesen, Helfer in den Einrichtungen einzustellen, die all die Tätigkeiten übernehmen, die nicht zwingend mit dem pädagogischen Konzept zusammenhängen und dem Fachpersonal den Rücken freihalten. Die Stadt Offenburg prüft gerade dieses Modell, um die Ganztages-Kita zu retten. In Radolfzell habe man dem bereits eine Absage erteilt, berichtet Lea Burkard. Man könne den Kindern nicht die vielen fremden Menschen in der Betreuung zumuten, so eine der Begründungen.

„Ich habe das Gefühl, die Stadt hat aufgegeben“

Doch auch andere Vorschläge, konkrete Hilfe bei der Betreuung der Kinder für einzelne Stunden oder Ideen, wie man neues Personal gewinnen könnte, seien abgebügelt worden. „Ich habe das Gefühl, die Stadt hat an diesem Punkt aufgegeben“, sagt Bernhard Burkard, Lea Burkhards Mann und Vater von Emma. Man würde sich hinter der Satzung und Paragrafen verstecken und auch vor den Eltern selbst. Das Schreiben kurz vor Weihnachten sei so rausgeschickt worden, dass keine Rückfragen mehr gestellt werden konnten, da sich die zuständigen Mitarbeiter im Rathaus längst im Weihnachtsurlaub befänden. „Die Stadt hat jede Kreativität verloren, mit dieser Lage irgendwie umzugehen“, sagt Bernhard Burkard.

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Dabei startete die Stadt laut Informationen von Pressesprecherin Julia Theile recht optimistisch ins neue Kindergartenjahr. „Sieben neue Fachkräfte starteten zum 1. September 2022“, schreibt sie auf Nachfrage des SÜDKURIER. Seit Sommer seien fünf Fachkräfte mit Arbeitsbeginn im vergangenen Halbjahr sowie vier Zusatzkräfte, die den Betrieb der Kitas unterstützen, eingestellt worden.

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„Leider konnte die Neueinstellungen die weitere Entwicklung nicht auffangen“, so Theile. Gründe für die enge Personalsituation seien vielfältig. Schwangerschaften, Eintritt in den Ruhestand, kurzfristige Wechsel der Einrichtungen seien nur einige der Gründe. Hinzu kämen kurzfristige Krankheitsausfälle oder auch langwierige, schwerere Erkrankungen.

Im neuen Jahr sollen Maßnahmen auch politisch beschlossen werden

Um das Personal langfristig an die Stadt Radolfzell zu binden, wird der Verwaltungs- und Finanzausschuss im Januar darüber beraten, ob man städtischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern künftig Firmenfitness oder Sportkurse finanziert. Als weitere Option stehen auch Erfahrungsprämien für Mitarbeitende mit entsprechender Zugehörigkeitsdauer zur Debatte. Eine Imagekampagne soll neues Personal nach Radolfzell locken sowie der Ausbau des Fortbildungs- und Coaching-Angebotes in den städtischen Kitas.

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Bei der Personalsuche möchte die Stadtverwaltung auch das Vorgehen modernisieren. Die Internetauftritte der Kitas sollen verbessert werden und die Werbemaßnahmen sollen ausgedehnt werden. Auch möchte die Stadt aktiv auf Messen gehen und Kooperationen mit Ausbildungsinstitutionen intensivieren. Die Anzahl an Ausbildungsplätzen und deren Rahmenbedingungen sollen ebenfalls verbessert werden, wie Pressesprecherin Julia Theile erklärt. Ferner bereite man eine Ausschreibung vor, auch alternative Berufsbilder wie Logopäde, Heilerziehungspfleger oder Physiotherapeut in die Kitas mit einbeziehen zu wollen. Dies sei nach Paragraf 7 des Landes-Kitagesetzes gestattet.

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Für die Eltern geht vieles nicht schnell genug. Nach Monaten der Ungewissheit und des Krisenmanagements sind sie am Ende mit den Nerven. „Es belastet mich sehr. Manchmal denkt man an nichts anderes mehr, außer wie man die Situation jetzt meistern kann“, sagt Rachel Long. Die prekäre Lage beeinflusst auch langfristige Lebenspläne der Familien: „Eigentlich wollten wir ein zweites Kind, aber aktuell kann ich mir das unter diesen Bedingungen nicht vorstellen“, sagt Alina Dorn-Löscher.