Diese Konstellation hat es vor dem Amtsgericht auch noch nicht oft gegeben. Während der Angeklagte ruhig, fast schüchtern, bedächtig und sehr höflich auftrat, polterte das Opfer, der als Zeuge geladen war, einmal durch den Gerichtssaal. Die Fragen der Verteidigung wollte er nicht beantworten und pöbelte dabei Rechtsanwalt Björn Bilidt ordentlich an. Auch die Ereignisse, nach denen Richterin Ulrike Steiner gefragt hatte, waren scheinbar aus seiner Erinnerung gelöscht. Mehrmaliges Nachfragen quittierte er mit patzigen Antworten.
Dabei hatte er nach Verlesung der Anklage jede Sympathie und jedes Mitgefühl erst einmal auf seiner Seite. Der 44 Jahre alte Geschädigte aus Radolfzell wurde an einem frühen Dezembermorgen im Jahr 2020 vom 27-jährigen Angeklagten, der aktuell in der Schweiz wohnt, in seiner Wohnung mit einem Messer angegriffen und dabei schwer verletzt. Dafür wurde der Angeklagte vor dem Amtsgericht zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt.
Dass der 44-Jährige die Entschuldigung seines ehemaligen Freundes während der Verhandlung nicht annehmen konnte, dafür hatte jeder im Saal Verständnis. Doch sorgte sein restlicher Auftritt für Kopfschütteln auf allen Bänken.
Treffen zum gemeinsamen Drogenkonsum
Doch was war nun geschehen an diesem Abend und jener Nacht im Dezember? Der Angeklagte selbst legte ein sehr umfangreiches Geständnis ab. Er berichtete ausführlich von dem Abend, an dem er seinen damaligen Kumpel und ehemaligen Nachbarn besuchen wollte. Dieser wohnt gemeinsam mit seiner Freundin in Radolfzell, die Partnerin war aber an diesem Tag verreist. Der Angeklagte fuhr mit dem Seehas aus Richtung Konstanz nach Radolfzell, der 44-Jährige habe ihn am Bahnhof abgeholt. Zusammen sei man in die Wohnung gefahren. Was die Männer vorhatten? „Wir wollten zusammen Drogen konsumieren“, fasst der 28-Jährige vor Gericht zusammen.
Die Aussage des Opfers klang hingegen etwas vage. Er gab an, den Angeklagten nur am Bahnhof abgeholt zu haben, weil dieser wegen Schwarzfahrens den Zug habe verlassen müssen. Da es zu dieser Zeit eine Ausgangssperre im Zuge der Corona-Maßnahmen gab, habe er ihn mit zu sich genommen, um dort die Nacht bis zum frühen Morgen zu überbrücken. An Drogen könne er sich nach all der Zeit beim besten Willen nicht mehr erinnern.
Auf die Nachfrage, was sie denn knappe zehn Stunden vom frühen Abend bis zum frühen Morgen in der Wohnung getan haben, reagierte er recht ungehalten. Der 44-Jährige gab nur an, der Angeklagte habe von Beginn an wirre Verschwörungsmythen von sich gegeben und er selbst habe praktisch nur versucht, ihn wieder zu beruhigen.
Panikattacken und Paranoia
Die Aussage des Angeklagten dazu war etwas konkreter. Schon als sie noch Nachbarn waren, seien beide regelmäßige Drogenkonsumenten gewesen. In der Wohnung des 44-Jährigen hätten beide zunächst große Mengen Marihuana mit einer Wasserpfeife geraucht. Später seien Amphetamine hinzugekommen. Doch habe der 28-Jährige die Drogen nicht gut vertragen. Das Gefühl von Panik kam auf, er sei auch paranoid geworden.
Er habe seinen Freund verdächtigt, ihm etwas in die Drogen gemischt zu haben. Dieser Zustand soll sich über Stunden gesteigert haben. Und ab diesem Zeitpunkt decken sich die Aussagen wieder. Der 44-Jährige – überfordert mit der Situation – habe am frühen Morgen dann für den Angeklagten einen Krankenwagen rufen wollen. Da seien bei dem 28-Jährigen sämtliche Sicherungen durchgebrannt, er ging mit einem Messer auf seinen Freund los und stach mehrfach auf ihn ein.
Das Opfer erlitt eine tiefe Stichwunde an der rechten Hand, Abwehrverletzungen an beiden Händen, weitere Stichwunden an der Schulter und am Oberschenkel. Den rechten Zeigefinger könne er noch immer nicht komplett ausstrecken und habe auch kein Gefühl darin. Keine der Verletzungen war letztlich lebensgefährlich, doch die Todesangst des Geschädigten sei real gewesen, machte Richterin Ulrike Steiner deutlich.
Auch der Angeklagte schien knapp eineinhalb Jahre nach dem Vorfall noch immer schockiert über sein eigenes Verhalten gewesen zu sein. „Es hätte so viel schlimmer ausgehen können“, sagte er selbst.
Mann mit dem Messer stand unter Schock
Auf das Bitten des Opfers rief der 28-Jährige dann schließlich einen Krankenwagen. Auch der Rettungssanitäter, dessen Aussage nur verlesen wurde, gab an, dass der Mann mit dem Messer sichtlich unter Schock stand. Das Opfer lag blutüberströmt vor der Haustür im Treppenhaus. Der Angeklagte habe aber das Messer bereitwillig abgegeben. Rückblickend äußerte sich auch der 28-Jährige erleichtert, dass die Situation aufgelöst wurde: „Ich war ehrlich froh, als die Polizei dann kam.“
Der Angeklagte wurde dann für ein paar Tage im Zentrum für Psychiatrie Reichenau eingewiesen. Dort sei er aber nach etwa vier Tagen wieder entlassen worden. Seitdem habe der Angeklagte seinen Drogen- und Alkoholkonsum drastisch eingeschränkt, zuletzt ganz aufgegeben. Um diese Entwicklung weiter zu unterstützen, wurde das Absolvieren einer Drogenentzugstherapie vom Gericht zur Bewährungsauflage erklärt. Dies schlugen auch der psychologische Gutachter, der Staatsanwalts und sogar sein eigener Rechtsanwalt vor.
Der Gutachter teilte in seinem Bericht auch mit, der Angeklagte sei zwar einsichtig gewesen, aber wegen des Drogenkonsums sei die Steuerung seiner Handlungen eingeschränkt gewesen.
Angeklagter war entsetzt über sich selbst
Richterin Ulrike Steiner erklärte in ihrer Urteilsbegründung, dass der Angeklagte eine sehr gute Sozialprognose habe. Weder vor noch nach der Tat danach habe er sich etwas zuschulden kommen lassen. „Wir haben deutlich gesehen, wie entsetzt der Angeklagte über sich selbst war“, sagte sie. Mit einer erfolgreichen Drogentherapie erwarte sie keine weiteren Gewalttaten von ihm.
Die Haftstrafe ist auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Der 28-Jährige muss auch 2000 Euro Schmerzensgeld an das Opfer bezahlen.