Es hätte ein großes Medienecho gegeben und bundesweite Aufmerksamkeit: Nun hätte vor dem Singener Amtsgericht gegen zwei Polizisten verhandelt werden sollen, die im Februar 2021 einen damals Elfjährigen in Handschellen zum Polizeirevier mitgenommen haben sollen. Dass es einen solchen Vorfall mit Handschellen gab, hat Uwe Vincon, Pressesprecher des zuständigen Polizeipräsidiums in Konstanz, kurz danach bestätigt. Eine zusätzliche Brisanz des Falles ergibt sich daraus, dass der Junge zur Gruppe der Sinti und Roma gehört.
Von den vier beteiligten Polizisten haben zwei Strafbefehle erhalten, gegen die sie Einspruch eingelegt hatten. Ein solcher Einspruch zieht eine öffentliche Hauptverhandlung nach sich. Doch daraus wurde nun nichts: Die beiden Polizisten, deren Anteile am Geschehen nun hätten verhandelt werden sollen, haben am Mittwochnachmittag ihre Einsprüche gegen die Strafbefehle zurückgezogen – und daher hat das Amtsgericht auch die Hauptverhandlung aufgehoben.
Gründe für Rücknahme unbekannt
Über die Beweggründe der beiden Polizisten gibt es keine offiziellen Informationen. Zum Bild gehört aber, dass Engin Sanli, der als Anwalt die Familie des Elfjährigen in der Nebenklage vertritt, argumentiert, dass die Anklage auf schwere Nötigung lauten sollte. Laut der Tagesordnung des Singener Amtsgerichts ist einfache Nötigung und Freiheitsberaubung angeklagt. Wie Sanli erklärt, habe das Gericht nach einer Beschwerde durch ihn die Nebenklage am Freitag zugelassen. Darin habe das Gericht ebenfalls geschrieben, dass schwere Nötigung in Frage komme. Und zwar, weil der Vorwurf sich gegen Amtsträger richtet. Schwere Nötigung wird laut Strafgesetzbuch mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis fünf Jahren bestraft. Und je nach Höhe müssten Polizisten entlassen werden, wie Polizeisprecher Vincon erklärt. Den beschuldigten Polizisten könnte dieses Risiko zu groß geworden sein.

Zu den Details des Hergangs am 6. Februar 2021 äußert sich Vincon nicht, da das juristische Verfahren noch weitergehen könnte. Er betont aber: „Die Polizei respektiert die Würde des Menschen. Antiziganismus tolerieren wir nicht.“ Den beiden Polizisten, die übrigens weiter im Dienst seien, sei ein handwerklicher Fehler unterlaufen. Damit das nicht noch einmal passiert, sei das nachbearbeitet worden und es werde im Einsatztraining berücksichtigt. Denn man sei nicht an Fehlern interessiert, die dann geahndet werden müssen. Polizisten müssten darauf vorbereitet sein, wenn sich Minderjährige gegen polizeiliche Maßnahmen wehren.
Aus Sicht der Polizei hätte eine Gerichtsverhandlung für Aufklärung gesorgt, so Vincon: „Aber wir respektieren die Entscheidung der Kollegen.“ Er stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Rechtmäßigkeit von Amtshandlungen zunehmend infrage gestellt würde – und zwar vom Kind bis zum aufgebrachten Autofahrer. Die Polizei gerate so immer mehr unter Rechtfertigungsdruck. Und er gibt noch etwas zu bedenken: Es sei nichts unter den Teppich gekehrt worden, sonst wäre es nicht zu den Strafbefehlen gekommen.
Diese Strafbefehle werden nach der Rücknahme der Einsprüche nun rechtskräftig, wie Johannes-Georg Roth, Leiter der Konstanzer Staatsanwaltschaft, auf Anfrage erklärt. Juristisch gesehen handle es sich um eine Verwarnung mit Strafvorbehalt. Grob gesagt wird dabei eine Geldstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Lässt sich die verwarnte Person in der Bewährungszeit nichts zuschulden kommen, ist die Geldstrafe hinfällig. Allerdings habe es laut Roth auch weitere Bewährungsauflagen gegeben, zu denen er sich aber nicht näher äußerte. Medienberichte, wonach die Strafbefehle über 3600 Euro lauteten, bestätigte Roth ebenso wenig, wie er sie dementierte.
Was passiert ist, bleibt offen
Was nun vorerst nicht passieren wird, ist eine öffentliche Aufarbeitung dessen, was sich kurz vor der Fasnacht 2021 rund um die beiden bekannten Singener Hochhäuser Romulus und Remus abgespielt hat. In den Augen des baden-württembergischen Landesverbandes im Verband deutscher Sinti und Roma (VDSR-BW), der den Fall damals im großen Stil öffentlich machte, war die Personenkontrolle, bei der der Junge in Handschellen abgeführt wurde, von Anfang an anlasslos. So lesen sich alle Pressemitteilungen, die der Verband zu dem Vorfall herausgegeben hat, der zwischenzeitlich auch das Landesinnenministerium beschäftigte. Recherchen des SÜDKURIER vor Ort ergaben allerdings, dass es für die Polizeikontrolle durchaus einen Anlass gegeben habe. Eine Person, die mit den Verhältnissen gut vertraut ist, berichtete damals, die Gruppe von Kindern lebe nicht selbst in der Anlage, habe dort aber schon mehrfach Unruhe gestiftet.
Ob die Polizisten damals angemessen gehandelt haben oder nicht, hätte das Gerichtsverfahren klären können. Dass es dazu nicht kommt, bedauert auch Nebenklage-Anwalt Sanli: „Eine Hauptverhandlung wäre wichtig gewesen, um die Dinge aufzuarbeiten.“ In einer Pressemeldung des VDSR-BW interpretiert er die Rücknahme der Einsprüche weiterhin so, dass der Junge wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Sinti und Roma so behandelt wurde – und das ohne Rechtsgrundlage.
Juristisch gesehen ist die Sache noch nicht unbedingt beendet. Zwar ist das strafrechtliche Verfahren aus Sicht der Staatsanwaltschaft in dem Moment abgeschlossen, in dem die Einsprüche gegen die Strafbefehle zurückgezogen werden, sagt Staatsanwalt Roth. Ob dieser Weg wirklich ausgeschöpft ist, wolle er allerdings prüfen, sagt Nebenklage-Anwalt Sanli. Und man könne sich überlegen, auf zivilrechtlichem Wege Schadenersatzansprüche geltend zu machen, sagt er. Außerdem hat Sanli schon im März 2021 eine zweite Strafanzeige wegen Beleidigung gestellt. Dazu läuft noch ein juristisches Tauziehen, wie aus Äußerungen von Anwalt und Staatsanwaltschaft deutlich wird. Auch disziplinarrechtliche Konsequenzen könnte der Vorgang noch haben, sagt Polizeisprecher Vincon.