Nina Bruggers zweites Leben beginnt an einem Herbsttag 2024 und fließt in der Freiburger Universitätsklinik durch einen Infusionskatheter: Stammzellen.

Eigentlich hat die junge Schwenningerin im Sommer Geburtstag. Künftig wird sie ihn zweimal feiern: Einmal im August und einmal im November, an dem Tag, an dem ihr Stammzellen ihres Bruders Marc transplantiert wurden. „Jetzt habe ich einen Sommer- und einen Wintergeburtstag“, sagt sie und lacht.

Nina Brugger und ihr drei Jahre jüngerer Bruder Marc, von dem die Stammzellspende stammt.
Nina Brugger und ihr drei Jahre jüngerer Bruder Marc, von dem die Stammzellspende stammt. | Bild: Marc Mehne

Sie kann wieder lachen, auch wenn die vergangenen Monate ihre Spuren hinterlassen haben. Ihre Haare sind nach den Chemotherapien noch nicht zurück, weshalb sie eine Perücke trägt, und auch wenn sie schon wieder ein paar Kilogramm zugenommen hat, sitzt am Esstisch der Familie eine noch immer sehr zarte Frau.

Erst der Infekt, dann der Schock

Im September 2024 hatte die Mutter von drei Kindern zwischen zwei und neun Jahren die Diagnose Leukämie erhalten. Mehrere hochdosierte Chemotherapien hatten nicht angeschlagen.

„Es zieht einem den Boden unter den Füßen weg“, beschreibt Nina Brugger den Tag der Diagnose. Dass etwas mit ihr so ganz und gar nicht stimmt, hatte sie schon geahnt: Nach einem wochenlang andauernden fiebrigen Infekt und einer Blutuntersuchung wurde sie vom Hausarzt direkt zu einem Onkologen überwiesen. „Da muss man ja nur eins und eins zusammenzählen“, sagt sie nüchtern.

Großer Andrang: Bei der Typisierungsaktion für Nina Brugger stehen die Menschen im November 2024 vor der Waldmann-Kita Schlange.
Großer Andrang: Bei der Typisierungsaktion für Nina Brugger stehen die Menschen im November 2024 vor der Waldmann-Kita Schlange. | Bild: Hans-Jürgen Götz

Die schlechten Vorzeichen sollten sich bewahrheiten. Akute Myeloische Leukämie (AML) lautet die Diagnose. Es gibt eine Vielzahl bösartiger Erkrankungen des blutbildenden Systems, die AML ist eine davon.

Nach Angaben der Deutschen Krebsgesellschaft machen bösartige Erkrankungen des blutbildenden Systems in Deutschland etwa 2,7 Prozent der Tumorerkrankungen bei Frauen und 3,1 Prozent der Tumorerkrankungen bei Männern aus.

603 Menschen lassen sich im November 2024 in der Waldmann-Kita typisieren: 603 Chancen auf ein neues Leben für Leukämiepatienten weltweit.
603 Menschen lassen sich im November 2024 in der Waldmann-Kita typisieren: 603 Chancen auf ein neues Leben für Leukämiepatienten weltweit. | Bild: Hans-Jürgen Götz

Nach der Diagnose wurde Nina Brugger sofort stationär aufgenommen, erste Chemotherapien eingeleitet. „Vor allem psychisch war das eine extrem herausfordernde Zeit“, blickt sie zurück. Vor allem die Tatsache, dass sie ihre Kinder nicht sehen durfte, habe ihr sehr zugesetzt. Kinder unter zwölf Jahren haben auf der hämatologisch-onkologischen Station keinen Zutritt, um die schwer kranken Patienten nicht anzustecken.

Stammzelldaten werden abgeglichen

Nach mehreren Chemotherapien, die nicht anschlagen wollten, war klar: Nina Brugger braucht einen Stammzellspender. Über die Stammzelldatei der Freiburger Uniklinik wurde deshalb eine Typisierungsaktion gestartet. Mit riesiger Anteilnahme. 603 Menschen ließen sich in der Waldmann-Kita typisieren. Nina Brugger arbeitet als Industriekauffrau bei der Firma Waldmann, die sich sofort bereit erklärte, die Kita-Räume für die Aktion zur Verfügung zu stellen.

Noch während die Proben der Typisierungsaktion im Labor untersucht wurden – der Vorgang dauert etwa zehn bis 14 Tage – wurden die Stammzellspenderdateien abgeglichen. Allein in Deutschland gibt es 26 davon.

Ein Geschenk fürs Leben

Mit Erfolg: „Erst habe ich erfahren, dass jemand Passendes gefunden wurde“, sagt Nina Brugger. Wenig später war klar, dass der Spender ihr Bruder Marc Mehne ist. Der war schon seit Längerem bei der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) registriert.

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Ein echter Glücksfall, denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Familienmitglied für eine Stammzellspende infrage kommt, ist gering. In etwa 70 Prozent der Fälle passt es nicht. „Marc und ich haben sowieso ein enges Verhältnis“, sagt Nina Brugger. „Aber das hat uns noch mehr zusammengeschweißt.“

Hilflosigkeit und Ohnmacht

Auch für Marc Mehne war die Spende an seine Schwester etwas Besonderes. „Ich hätte auch für jeden anderen sofort gespendet. Aber das für meine Schwester zu tun, war noch mal anders. Vor allem konnte ich etwas tun.“ Wenn ein geliebter Mensch plötzlich so schwer krank werde, sei es unendlich schwer, hilflos danebenzustehen.

Die Spende selbst sei übrigens komplett unkompliziert, sagt Marc Mehne: Über zwei venöse Zugänge wurde ihm fünf Stunden lang Blut entnommen, die Stammzellen wurden herausgefiltert und das Blut über einen weiteren Zugang wieder zurückgeführt: „Davor muss man wirklich keine Angst haben.“ Nur noch in Ausnahmefällen würden Stammzellen unter Vollnarkose aus dem Knochenmark im Beckenkamm entnommen.

Ein kleiner Feiertag – auch für das Klinikteam

Weltweit sind 40 Millionen Menschen als Stammzellspender registriert, zehn Millionen allein in Deutschland. Bei Geschwistern liege die Wahrscheinlichkeit, dass sie als Spender in Frage kommen, bei etwa einem Viertel, sagt Claudia Wehr. Sie ist Oberärztin in der Freiburger Uniklinik im Department Hämatologie und Onkologie.

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Der Moment, in dem sich zeige, dass die neuen Stammzellen angewachsen sind, sei auch für das Team in der Klinik immer ein ganz besonderer. „Das ist wie ein kleiner Feiertag für die Patienten, aber auch für uns.“

Die Familie gibt ihr Kraft

Nina Brugger kämpft sich nun seit Anfang des Jahres zurück in den Alltag. Vor allem ihr Mann Michael und ihre Kinder Emily (9), Milia (6) und Levi (2) geben ihr Kraft, auch wenn manche Tage anstrengend sind.

Auch der Rest der Familie hilft, wo es geht. „Zum Glück haben wir von beiden Seiten die Großeltern vor Ort, die uns den Rücken freigehalten haben.“ Ihr Mann war die meiste Zeit bei ihr in der Uniklinik, die Kinder wurden im Wechsel von Familienmitgliedern betreut. „Ich will mir gar nicht ausmalen, wie das ist, wenn man eine solche Situation ohne Familie vor Ort schaffen muss.“

Nina freut sich über jeden Fortschritt: Mit dem Essen werde es nach wochenlanger Übelkeit – Nebenwirkungen der Chemotherapien – langsam besser. Auch ihre Haare wachsen wieder. Allerdings nicht blond und glatt, sondern dunkel und gelockt.

Vorsicht bis zu den Impfterminen

Durch die Stammzellspende ist auch Nina Bruggers Immunsystem noch nicht wieder intakt. Alle vorangegangenen Impfungen sind gelöscht, ihre Blutgruppe eine andere. „Demnächst kann ich mich aber wieder impfen lassen“, sagt sie. Bis dahin ist ein Händedesinfektionsmittel ihr treuer Begleiter; ihren kleinen Sohn holt sie lieber mit Mundschutz aus der Kita ab.

Dankbar für die gute Begleitung

Auf eine Reha, die sie direkt in Freiburg hätte machen können, hat Nina Brugger vorerst verzichtet. „Ich wollte nur noch weg. Auch wenn in der Uniklinik alle toll waren, menschlich und kompetent gleichermaßen.“

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Weihnachten konnte sie zu Hause verbringen – für sie ein großes Geschenk. Ebenso wie das Wissen, dass mehr als 600 Menschen zur Typisierungsaktion gekommen sind. „Die war ja nicht nur für mich. Jede einzelne Typisierung kann für einen anderen Patienten die Chance für ein zweites Leben sein.“