Frau Müller, Sie untersuchen mit einer Online-Befragung das Verhalten und Erleben von Menschen in der Pandemie. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die psychische Belastung junger Studierender verändert hat. Wie äußerte sich das konkret?
Der Stress des Corona-bedingten Lockdowns kann je nach Veranlagung und Vorgeschichte zu völlig unterschiedlichen Beschwerden führen. Beispielsweise zeigen unsere Untersuchungsergebnisse, dass Studierende zwischen 18 und 28 Jahren in dieser Zeit vermehrt an Ängsten, depressiven Verstimmungen und körperlichem Missbefinden litten. Einige berichteten zudem, sich an öffentlichen Orten unwohler zu fühlen, sie waren reizbarer und verspürten Hoffnungslosigkeit angesichts der Zukunft. 18 Prozent der Studierenden waren sogar so stark belastet, dass eine genauere klinisch-psychologische Abklärung erfolgen sollte. Vor der Corona-Pandemie betrug der Anteil fünf Prozent. Das ist ein sehr starker Anstieg. Entgegen unserer Erwartungen konnten keine negativen Veränderungen beim Schlafverhalten und beim Alkoholkonsum festgestellt werden. Allerdings weiß man, dass während des Lockdowns mehr Alkohol konsumiert wurde und dass maladaptives Verhalten insgesamt zugenommen hat: mehr Essen und mehr Drogen – an erster Stelle eben Alkohol als Gesellschaftsdroge Nummer eins. Das sind Coping-Strategien. Wenn wir Stress haben, neigen wir dazu, uns so zu beruhigen. Oder uns bei Langeweile so zu stimulieren, dass es wieder angenehm wird. Dass sich dies in unserer Stichprobe nicht bestätigt hat, mag daran liegen, dass die Studierenden trotz allem durch den Fernunterricht in einen Tagesrhythmus eingebunden waren – wenn auch online.
Seit knapp einem Jahr ist die Welt im Ausnahmezustand. Manche kommen mit dieser Situation schlechter zurecht, manche besser. Immer wieder fällt dabei das Stichwort Resilienz. Was kann der einzelne tun, um seine Resilienz zu stärken?
Die aktuelle Situation rund um das Corona-Virus ist komplex und die Entwicklung der nächsten Monate liegt nicht in unserer Hand. Es ist daher nachvollziehbar, dass viele Menschen traurig, unsicher, einsam, ängstlich oder wütend sind. Unter Resilienz wird die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung psychischer Gesundheit während oder nach stressreichen Lebensereignissen – wie der Corona-Pandemie – verstanden. Das heißt: resiliente Menschen bleiben oder werden wieder – psychisch – gesund. Die gute Nachricht ist, dass Resilienz gefördert und trainiert werden kann. Was man konkret tun kann? Trotz aller Einschränkungen ist es wichtig, ein gesundes Leben zu führen, wozu ein regelmäßiger Schlafrhythmus, eine gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung zählen. Außerdem ist es wichtig, eine abwechslungsreiche Tagesstruktur aufrechtzuerhalten und gegebenenfalls neue Routinen zu finden, falls die gewohnten nicht mehr möglich sind, etwa Workout zu Hause statt Fitnessstudio. Eintönige Tagesabläufe führen zu Langeweile, Frust und gedrückter Stimmung. Daher ist es zu empfehlen, weiterhin Dinge zu tun, die einem Freude bereiten oder Neues auszuprobieren. Das klingt trivial, hilft aber, den Alltag zu strukturieren. Soziale Kontakte sind in Zeiten von Krisen besonders wichtig, weshalb diese so gut es geht aufrechterhalten werden sollten – sei es via Social Media oder per Telefon. Darüber hinaus kann es helfen, einen neuen Blick auf die aktuelle Situation zu werfen und die Aufmerksamkeit auf die positiven Aspekte zu richten. Einige Menschen berichten, dass sie seit der Pandemie häufiger an der frischen Luft gewesen sind oder Zeit gefunden haben, mal wieder mit alten Freunden zu telefonieren.
Oft hört man: Immerhin haben wir keinen Dritten Weltkrieg/ein Dach über dem Kopf/jeden Tag zu essen. Helfen solche Vergleiche Menschen, die unter dem Pandemie-Alltag, den Einschränkungen und dem Lockdown leiden, weiter? So nach dem Motto: Schlimmer geht immer?
Schlimmer geht immer – das mag wohl stimmen. Wenn wir uns jedoch an das Geschehen während des harten Lockdowns in Italien oder Spanien zurückerinnern, so gibt es schon gemeinsame Nenner. Etwa die überfüllten Krankenhäuser, Patienten, die abgewiesen werden mussten. Das ist vergleichbar mit dem 11. September oder mit einer Naturkatastrophe. Auch die lange Dauer des Lockdowns ist vergleichbar mit der Isolation in einem Kriegsgebiet, vor allem in Ländern, die einen harten Lockdown hatten. Überdies herrscht eine große Verunsicherung, da die Corona-Pandemie unsere Zukunft weniger planbar macht. Wir erleben einen Kontrollverlust. Wir sind verunsichert und verlieren die Möglichkeit, Dinge zu tun, die wir gerne machen – ausgehen, feiern, Freunde treffen, unbeschwert unterwegs sein. Die Kontaktbeschränkungen sind zwar notwendig, aber sie schränken unsere persönlichen Freiheiten stark ein und damit auch vertraute Strategien, positive Erfahrungen zu machen. Das kann zur Folge haben, dass unsere Stimmung in den Keller geht und kann mit der Zeit zu einer Depression oder anderen psychische Probleme führen. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind davon besonders betroffen, weil sie den Kontakt und Austausch mit Gleichaltrigen brauchen. Dieses Phänomen erlebe ich auch in meinem Praxisalltag. Meine jungen Patienten berichten mir, dass sie sich von ihrem Umfeld mehr Verständnis für ihre aktuelle Situation wünschen. Eltern, Lehrer und andere Bezugspersonen sollten jungen Menschen daher vor allem zuhören, verständnisvoll sein und ihre Ressourcen stärken.
Werden wir irgendwann zu einem unbefangenen Alltag zurückkehren? Manchmal hat man das Gefühl, wir alle werden künftig nur noch Hände waschen und an jeder Türklinke das nächste Virus wittern.
Ja, bestimmt. Im Moment lernen wir zwar, dass Nähe und Kontakt zu anderen gefährlich sind. Sobald die Pandemie endet, werden wir dieses Verhalten aber schnell wieder ablegen. Denn wir sind von der Evolution her so gebaut, dass wir in Gruppen leben. Wir brauchen Berührung, Austausch, Nähe.
Zur Person
Verena Müller ist 28 Jahre alt und stammt aus Villingen-Schwenningen. Der Mittleren Reife an den St. Ursula Schulen 2009 folgte 2012 am Sozialwissenschaftlichen Gymnasium in Villingen das Abitur. Von 2014 bis 2019 hat sie ihren Bachelor- und Masterabschluss in Klinischer Psychologie an der Universität Fribourg in der Schweiz gemacht. Seit 2019 ist sie dort als Kinder- und Jugendpsychotherapeutin sowie als Doktorandin am Lehrstuhl für Klinische Psychologie tätig. Für die Fortführung der Studie zur Erforschung des Verhaltens und Erlebens während des Lockdowns werden weitere Teilnehmer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gesucht. Weitere Informationen gibt es unter https://www3.unifr.ch/psycho/de/forschungseinheiten/klipsy/forschungsprojekte/corona-studie.html