Pierre Bikart braucht vier Anläufe. Drei Mal will er auf die Frage antworten, was es für ihn bedeutet, dass nun in der Waldstraße 11 fünf Stolpersteine für seine Großeltern, seine beiden Tanten und seinen Vater liegen. Drei Mal kommt er nur bis „es ist schwer“. Drei Mal hört er auf, bevor die Stimme brüchig wird. Drei Mal dreht er den Kopf weg, bevor die Tränen kommen.
„Es ist sehr schwer“, sagt Jeanette Bikart. „Unser Vater hat drei Jahre KZ erlebt.“ Jeanette Bikart ist Pierre Bikarts Schwester. Sie trägt den Vornamen ihrer Großmutter. Die Zweitnamen sind die ihrer Tanten. Ruth und Silva. Die Erinnerung lebt mit ihr. „Es ist sehr schwer – alle Tage“, sagt sie. „Wir vergessen nicht.“
Am 8. Mai 1945 wird ihr Vater, Sigmund Bikart, befreit. Er hat als einziger der Familie den Holocaust überlebt. „Wir können es nicht vergessen, wir haben etwas geerbt davon“, sagt Jeanette Bikart.
Und trotzdem: Sie mögen Villingen. Auch ihr Vater hat es gemocht. Sie kommen jedes Jahr. Bis ihr Vater 2000 starb auch immer mit ihm. Bei jedem Besuch gingen sie in die Waldstraße 11. Das einstige Wohnhaus Sigmund Bikarts. Ein Ort der Erinnerungen. Nicht nur der schlechten. „Sie haben hier doch auch schöne Jahre gehabt, sie sind hier geboren“, sagt Jeanette Bikart. Ihr Großvater war Narro bei der Zunft, Gründungsmitglied beim FC 08, ihr Vater selbst leidenschaftlicher Fußballer beim 08. Die Familie hatte eine erfolgreiche Viehhandlung. „Wir sind stolz auf die Spuren, die unsere Familie in der Stadt hinterlassen hat“, sagt Jeanette Bikart.
Bei einem ihrer Besuche war das Haus dann plötzlich weg. Abgerissen. „Das war dramatisch“, sagt Pierre Bikart. Heute steht eine Garage dort. Und seit ein paar Tagen liegen nun dort auch die Stolpersteine.

Pierre Bikart hat die jahrelangen Diskussionen im Gemeinderat verfolgt, hat mit Gemeinderäten auch persönlich gesprochen. Hat mit ihnen gestritten. Er hat es nicht verstanden. Die Argumente dagegen. Warum auch?
Ihr Vater hat nicht viel über die Zeit damals gesprochen. Von dem, was er erlebt hat, erlebt haben muss, haben sie überhaupt erst von Freunden erfahren. Die einzige Erinnerung, die sein Vater mit Pierre Bikart je geteilt hat war, wie er damals als Spieler des FC 08 plötzlich ausgeschlossen wurde von den Spielen. „Das war schlimm für ihn.“
„Es ist eine Erinnerung, vor allem auch für unsere Kinder und Enkelkinder.“Jeanette Bikart
Sigmund Bikart muss unmenschliches Leid erlebt haben. Er hat mit seinen Kinder nie darüber gesprochen. Er konnte fröhlich sein, er konnte lachen und unbeschwert sein, sagt Jeanette Bikart. „Aber in seinen Augen“, sagt sie und stockt. Sie sucht nach den richtigen Worten auf deutsch. Wer ihn kannte, das will sie sagen, wusste, dass seine Augen manchmal eine andere Sprache sprachen, als sein Mund. Das hinter dem Lachen noch etwas anderes war.
Fünf Stolpersteine liegen nun in der Waldstraße. Für Jeanette, Louis, Ruth, Silva und Sigmund Bikart. „Es ist eine Erinnerung, vor allem auch für unsere Kinder und Enkelkinder“, sagt Jeanette Bikart. Sie leben in Straßburg, nächste Woche wollen sie alle gemeinsam wieder kommen. Zehn bis 15 Leute. „Das gehört jetzt zu unserer Familie“, sagt Jeanette Bikart.
Pierre Bikart nickt. „Wir haben nur das“, sagt er. „Fünf Stolpersteine.“