Sobald die Kinder aus dem Alter der Mark-Forster- oder Max-Giesinger-Songs herausgewachsen sind und öfter mal Deutschrap hören, befürchten manche Eltern das Schlimmste. Schließlich geht es da um Gewalt, Sex, Drogen. Es geht aber auch ums Hochkämpfen von ganz unten nach ganz oben – schon immer und immer noch.
Wie Hochkämpfen aussehen kann, hat Sido vorgemacht, als er 2004 mit Totenkopfmaske von seinem Block rappte. Der Start einer andauernden Karriere. Heute erreichen Rapper wie Rin mit einer ganz anders klingenden Musik große Erfolge. Beim Openair Frauenfeld standen beide Künstler auf der Bühne.
Sind Autotune-Songs überhaupt Kunst?
Es ist leicht, Rapper wie Rin zu verurteilen. Er ist ein Sinnbild des Deutschrap-Hypes mit wenig Stimme und viel Effekt: Die automatische Tonhöhenkorrektur, Autotune genannt, macht fast aus jedem Satz eine ansprechende Melodie. Wer Rin auf dem Frauenfeld erlebt, merkt: Natürlich ist auch das Kunst! Es ist nicht seine Stimme, die punktet. Es sind auch nicht immer die Inhalte. Aber es ist die Art, wie er Musik macht.

Die Melodien sind eingängig und tanzbar. Und die Texte bieten immerhin so viel Inhalt, dass man sie mitsingen kann. Ganz laut, zehntausende Menschen auf einmal. Das Openair Frauenfeld bedeute ihm krass viel, sagt der 28-Jährige angesichts solcher Szenen, es sei der schönste Auftritt seines Lebens.
Es ist auch ein Sinnbild seiner Karriere: Hier startete er 2017 auf einer kleinen Bühne. Jetzt trat er zur gleichen Zeit wie Sido auf einer der beiden Hauptbühnen auf – und brachte die Masse mehr in Bewegung als manch internationaler Headliner, der eigentlich Höhepunkt des Programms sein sollte.
Deutschrap dominiert längst die deutschen Charts
Die Wahrscheinlichkeit, dass Jugendliche irgendwann Deutschrap hören, ist so groß wie nie: Zu Beginn des Jahrtausends war es noch eine seltene Ausnahme, wenn ein Rapsong den Platz 1 der deutschen Charts erreichte. Meist schafften das nur amerikanische Stars. Doch inzwischen sind die amerikanischen Flaggen hinter den Chartplatzierungen verschwunden und einer Vielzahl deutscher gewichen: 2021 erreichten 20 Rap-Songs die deutschen Charts, bei 19 davon wurde auf Deutsch gerappt.
Dass das anders klingt, wird häufig kritisiert: „Wenn wieder echter Hip-Hop kommt und nicht dieser scheiß Deutschrap, dann bin ich dabei“ kommentiert ein Frauenfeld-Fan bei Facebook, als das Festival für nächstes Jahr angekündigt wird.

Doch selbst Kritiker müssen anerkennen: Dieser „scheiß Deutschrap“ hat befördert, was Kern des Raps ist. Heute kann es wirklich jeder schaffen. Auch der Junge mit kroatischen Eltern aus Bietigheim-Bissingen, der inzwischen als Rin auf der Bühne steht.
Der Berliner Rapper Capital Bra brach 2019 sogar einen Rekord der Beatles, die mit zwölf Titeln die deutschen Charts angeführt hatten – Capital Bra schaffte 13. Dabei steht der Berliner Rapper für noch kürzere Songs mit weniger Inhalt. Das Publikum feiert das vermutlich trotzdem, wenn der Künstler auftritt. Beim diesjährigen Frauenfeld hat er nach 2018 wieder mal kurzfristig abgesagt und familiäre Gründe angegeben.
Wirklich kein Bock auf eine Villa?
Die Brücke von alt zu neu schlägt keiner so gekonnt wie Sido. Früher heroisierte er im Song „Mein Block“ das Leben in der Plattenbau-Siedlung: „Meine Gedanken, mein Herz, mein Leben, meine Welt / Reicht vom ersten bis zum sechzehnten Stock / Deine Villa, dein Boot, deine Frauen, deine Karriere / Dein Geld, dein Leben, kein Bock.“

Bisschen Bock auf das Leben auf der anderen Seite hatte er wohl schon, denn 18 Jahre später sitzt der Familienvater sicher in seiner eigenen Villa – wenn er nicht gerade beim Openair Frauenfeld auf der Bühne steht, um das nächste Sümmchen zu verdienen. Ist es nicht ein guter Anreiz, etwas erreichen zu wollen? Das ist der Gedanke, den Jugendliche mit Deutschrap inhalieren. Millionenfach, wie die Abrufzahlen bei Streaming-Diensten zeigen.
Vom Außenseiter zum Dauerbrenner
Sido ist der alte Hase, der den Sprung vom Außenseiter-Straßenrapper in die Charts und auf die Fernsehcouch geschafft hat. Als er 2019 zum Juror bei der Show „The Voice of Germany“ wurde, erinnerte sich die ein oder andere Mutter an seine verruchten Songs von früher. Dabei ist er mit Titeln wie „Bilder im Kopf“ längst Eltern-tauglich geworden. Und älter, der Bart ist grau durchzogen. „Ganz schön viele junge Leute hier, die ein oder andere Zahnspange glitzert mich an“, sagt er in Frauenfeld.
Doch die Zahnspangen-Generation kennt ihn nicht nur aus dem Radio, sondern auch aus dem Angelcamp mit Youtube-Phänomen Knossi oder einem Feature mit Deutschrap-Wunder Apache. Denn Sido ist zwar älter geworden, aber nicht alt. Kein Wunder, dass das Openair Frauenfeld ihn schon zum sechsten Mal gebucht hat.
Vielleicht ist es besorgten Eltern ein Trost, dass nicht Sidos Song über Prostituierte (“Carmen“) oder der „Arschficksong“ als sein größter Erfolg gelten, sondern „Au revoir“. Denn die Single wurde über eine Millionen Mal verkauft. Da kann man gefahrlos mitsingen, ohne über Themen wie Gewalt, Sex und Drogen zu stolpern.