Herr Kleinert, bei der Gruppenwahl zum Fußballspiel der Letzte zu sein, das kann eine traumatische Erfahrung bedeuten. Inwiefern hilft hier die Sportpsychologie?
Ich finde dieses Wählen eh nicht gut und rate davon ab, diesen Prozess unbegleitet den Lernenden zu überlassen. Wichtiger wäre, Gruppenphasen einzuplanen, wo leistungsstärkere Lernende den Leistungsschwächeren helfen und diese wiederum auch zulassen, sich helfen zu lassen, statt das Gefühl zu haben, vorgeführt zu werden. Ob beim Korbleger im Basketball oder Hochsprung: Gemeinsam als Gruppe zum Ziel zu kommen, das kann eine unglaublich bereichernde Erfahrung für alle Beteiligten sein – trotz unterschiedlicher, im Sport deutlich sichtbarer Stärken und Schwächen.
Wie wird Sportunterricht für möglichst viele Schüler spannend?
Das ist sicher eine Frage des Inhalts von Unterricht, aber vor allem auch der Methode. Spannend für Kinder ist, wenn Lernziele zwar schwierig und herausfordernd, aber auch erreichbar sind. Das bedeutet, dass individuelle Leistungsziele möglich sein sollten, aber auch, dass schwächere und stärkere Kinder und Jugendliche gleich akzeptiert werden. Und hierzu gehört ein positives Lernklima in der Klasse. Das gilt aber nicht nur für den Sportunterricht. Wenn ich eine bereits zerstrittene Klassengemeinschaft habe, werde ich das auch in einer Doppelstunde Sportunterricht pro Woche nicht vollständig ändern. Was ich aber tun kann, ist, dieses Klima möglichst positiv zu beeinflussen.
Und was wären da mögliche Stellschrauben, in der Turnhalle oder draußen auf dem Sportplatz, um zu einem besseren Unterrichtsklima beizutragen?
Die Sportpsychologie unterscheidet zwischen einem kooperierenden und einem konkurrierenden Klima im Sportunterricht. Zahlreiche Studien belegen, dass deutlich bessere und nachhaltige Lernerfolge erzielt werden, wenn ein kooperatives Klima vorliegt, also nicht ein Gegeneinander, sondern ein Miteinander im Vordergrund steht. Und dabei ist es egal, welcher Könnensstand vorliegt. Wichtig dabei ist, dass die Schülerinnen und Schüler sich weniger mit anderen vergleichen, sondern mehr die eigenen, manchmal auch kleinen Erfolge im Vordergrund stehen.
Zur Person
Sie sprechen von Erfolgen. Es gibt ja aber auch Niederlagen und die sind im Sport so sichtbar für die ganze Klasse wie in keinem anderen Schulfach. Gibt es psychologische Erkenntnisse für einen gesünderen Umgang mit Scheitern?
Die Debatte ist nicht neu und poppt immer wieder mal auf, zuletzt auch im Jugendfußball. Oder bei Veranstaltungen wie den Bundesjugendspielen. Dass es nicht mehr um Punkte oder um Gewinnen und Verlieren gehen darf, halte ich nicht für richtig. Denn beim Gewinnen und Verlieren oder wenn ich einen bestimmten Platz erringe, geht es ja nicht nur um den sozialen Vergleich, also gegen jemanden zu gewinnen, sondern um einen eigenen Leistungsanspruch.
Sportlich gehört also dazu, nach einer Einheit auch mal sagen zu können, „da habe ich mir vielleicht zu viel vorgenommen“. Ich kenne Leistungssportler, die zwar nicht auf dem Siegerpodest stehen und sich trotzdem über ihren Platz freuen können, da sie einen guten Wettkampf gemacht haben oder unter ihrer Bestzeit geblieben sind. Also ist auch im Top-Sport der individuelle Maßstab wichtig.
Gibt es denn überhaupt einen sportlichen Maßstab für Erfolg und Misserfolg?
Meine eigene Entwicklung ist der Maßstab. Scheitern ist für mich dabei ein Hinweis, wo ich bei diesem Finden nach dem eigenen Maß gerade stehe. Das muss ich peu à peu herausfinden. Ich scheitere oder gewinne doch nicht nur im Vergleich mit anderen, sondern an dem, was ich mir zuvor persönlich vorgenommen habe, wo ich möglicherweise zu weit gegangen bin. Im Sportunterricht ist dabei wichtig, dass Kinder oder Jugendliche lernen, sich selbst richtig einzuschätzen, und sich, begleitet von Lehrpersonen, neue, erreichbare Ziele zu setzen und diese gegebenenfalls im Lernprozess nach oben oder nach unten anzupassen.
Übung macht bekanntlich den Meister! Und Verlieren will gelernt sein. Das gilt für viele Bereiche...
Kinder und Jugendliche lernen beim Sport fürs weitere Leben, mit Rückschlägen und Niederlagen ebenso wie mit Erfolg umzugehen. Und sie entwickeln im besten Fall ganz nebenbei eine höhere Frustrationstoleranz und Resilienz, die ihnen auch in anderen Bereichen weiterhilft. Hierbei ist die Klassengemeinschaft wichtig, aber es ist auch ein individueller Lernprozess.
Im besten Fall fühlen sich viele weder über- noch unterfordert und können sich auf dem eigenen Könnensniveau optimal entwickeln. Beim Bouldern etwa kann ich Schülern, die Angst vor der Höhe haben und sich eher wenig zutrauen, schon bei den ersten Griffen zeigen: „Schau mal, du kannst dich festhalten und deine Schultermuskeln halten dich.“
Was können Schüler lernen von Leistungssportlern, mit Leistungsdruck und Versagensängsten besser umzugehen?
Einen eigenen Maßstab entwickeln. Es geht darum, sich selbst eigene Ziele zu setzen, sich etwas für den Augenblick vorzunehmen. Und dann das eigene Ziel und das Ergebnis realistisch einzuschätzen. Es geht also sowohl im Leistungssport als auch im Schulsport darum, eigene Standards und Werte und die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und voranzubringen.
Natürlich spielt da die soziale Umwelt, aber auch die eigene Situation eine große Rolle. So kann ich nach einer dreiwöchigen Bronchitis etwa nicht erwarten, wieder auf dem Treppchen zu stehen, selbst wenn Medien und Sponsoren und Fans das von mir erwarten, weil ich zum Saisonstart mal Erster war. In dieser Entwicklung gilt es also, äußere Erwartungen und eigene Erwartungen voneinander trennen zu lernen. Das verringert Versagensängste, die meist durch äußere Erwartungen bedingt sind.
Was trägt zum Gelingen bei, dass Schüler nicht
nur Sport treiben, sondern langfristig Spaß daran haben?
Spaß ist ein sehr ungenauer Begriff, den es in der Psychologie gar nicht in dieser Form gibt. Das liegt daran, dass dieser Begriff viel zu unspezifisch ist. Denn die einen haben Spaß daran, sich beim Sport selbst möglichst heftig zu quälen, andere haben mehr Spaß an der Gemeinschaft und wiederum andere haben einfach Spaß daran, sich in der Natur zu bewegen. Sprechen wir lieber von Freude, dem Gefühl, dass ich mich wohlfühle bei dem, was ich tue.
Und dieses Gefühl entsteht unter anderem dann, wenn wir unsere Grundbedürfnisse befriedigen. Für den Schulsport heißt das, Kinder und Jugendliche sollten sich möglichst häufig fähig und kompetent, selbstbestimmt und in einer positiven Beziehung zu den anderen in der Klasse fühlen. Das motiviert und fördert das langfristige Sporttreiben.
Apropos Beziehung. Früher hat der Lehrer einfach einen Ball in die Mitte geworfen. Und das war‘s dann. Wie wird das heute abwechslungsreicher?
Ich kann den Schülern im Unterricht natürlich nicht alle Sportarten anbieten, aber ich kann Räume eröffnen und ihnen Angebote machen, möglichst viele Sportarten oder Bewegungsformen kennenzulernen. Besonders schön ist, wenn ich Schüler und Schülerinnen einbeziehe, sie zum Beispiel ihren eigenen Parcours oder einen eigenen Konditionszirkel entwickeln. So finden die Kinder und Jugendliche ihre eigenen Talente. Und dieses Gefühl, etwas gut zu können, ist natürlich super. Das führt zum Gefühl der Selbstwirksamkeit bezogen auf Sport und Bewegung und letztlich zum Gefühl körperlicher Kontrolle.