Eine Oper namens „Sibirien“ – allein der Titel lässt in der derzeitigen Situation ja aufhorchen. Schon im Vorfeld der Aufführung dieser kaum bekannten Oper von Umberto Giordano bei den Bregenzer Festspielen hatte Intendantin Elisabeth Sobotka daher nochmal klarstellen müssen, dass es sich hier vor allem um ein italienisches Werk handelt, selbst wenn es in Russland spielt. Und dass sie die russischen Künstler, die an der Produktion beteiligt sind, „alle sehr gut kenne“: Man dürfe kein Volk in Geiselhaft nehmen.
Nach der Premiere von „Siberia“ im Bregenzer Festspielhaus muss man zugeben, der Verlust wäre groß gewesen, hätte man das Stück nicht und vor allem nicht so erleben können wie in dieser Inszenierung von Vasily Barkhatov und unter der musikalischen Leitung von Valentin Uryupin. Was sich an Perlen in diesem Werk verbirgt – sie holten es heraus.
Von der Hure zur Heiligen
Die Handlung erinnert an Verdis „La Traviata“. Ein Frau – in „Siberia“ heißt sie Stephana -, die als Kurtisane den Luxus genießt, entdeckt die wahre Liebe und geht dafür in den Tod. Ihr moralischer Aufstieg von der Hure zur Heiligen wird durch den gleichzeitigen sozialen Abstieg noch unterstrichen: Stephana folgt Vassili ins Straflager nach Sibirien, wo das Paar ein Leben voller Entbehrungen, aber in erfüllter Liebe miteinander verbringt.
Eines Tages taucht Stephanas einstiger Zuhälter Gleby im Lager auf und will sie in ihr altes Leben zurückdrängen. Sie verweigert sich. Beim Versuch, mit Vassili aus dem Lager zu fliehen, wird sie von den Wachen erschossen.

Regisseur Uryupin schafft für das Stück eine neue Rahmenhandlung, die eine Verbindung von Russland nach Italien herstellt: Eine Italienerin mit russischen Wurzeln (Clarry Bartha) macht sich am Ende ihres Lebens auf die Suche nach ihrer Herkunft. Im Archiv eines russischen Gulags stößt sie auf die Geschichte ihrer Eltern – es sind Stephana und Vassili.

Die Rahmenhandlung wird in Form von Einspielungen eines Schwarz-weiß-Films erzählt (die Szenen sind übrigens teilweise im Hinterland von Ravensburg entstanden), die Opernhandlung selbst entsteht damit als Vorstellungswelt im Kopf der Italienerin.
Ein geschickter Regiekniff. So werden nicht nur etwaige Russland-Klischees aus der kulturellen Distanz plausibel, das eher eindimensionale Läuterungsdrama um Stephana erhält auch eine weitere Erzählebene, die die aus heutiger Sicht etwas fragwürdige moralische Wertung der Frauenfigur in den Hintergrund rückt.
Starke Frauenfigur
Überhaupt kehrt der Regisseur Stephanas starke, emanzipatorischen Seiten deutlich heraus. Sie steht nicht nur zu ihrer Liebe zu dem mittellosen Vassili, sondern letzten Endes selbstbewusst auch zu ihrer eigenen Vergangenheit.
Wie sie Glebys verleumderischer Erzählung über ihr Lotterleben damit kontert, dass er es schließlich war, der sie mit fünfzehn Jahren an reiche Männer verkauft hat, gehört zu den schönsten Momenten der Inszenierung. Die Sopranistin Ambur Braid – große Stimme, tolle Ausstrahlung – kostet ihn so richtig aus, indem sie Gleby buchstäblich den Mund stopft.
Auch Scott Hendriks geht in der Rolle des fiesen Unheilbringers Gleby auf. Alexander Mikhailov wirkt als Vassili hingegen oft etwas angestrengt. Seine Figur ist aber nicht uninteressant angelegt: Immerhin gelingt es ihm nach dem ersten Schock ebenfalls, Stephanas Vergangenheit zu akzeptieren.
Überwältigende Musik
Wirklich Großartiges aber kommt aus dem Orchestergraben: Valentin Uryupin stürzt sich mit Verve in die Partitur und lässt die Wiener Symphoniker über sich hinauswachsen. Unglaublich, was in dieser Musik alles drin steckt. Sicherlich, hier und da hat der Komponist eigens Szenen eingeflochten, um zu zeigen, was er an russischer Musik auf der Pfanne hat – Volkslieder, russische A-capella-Chöre oder Bühnenmusik mit Zither und Mandoline.
Und doch wirkt all das nie aufgesetzt, sondern fügt sich in ein rundes Gesamtbild ein. Besonders das harte Leben im Lager in einer zwar erbarmungslosen, in seiner unendlichen Weite aber auch schönen Natur fängt Giordano stimmungsvoll ein. Am Ende sitzt man da, sprachlos ob der emotionalen Wucht dieser Musik und mit der Frage im Kopf, wie sie so in Vergessenheit geraten konnte. Vielleicht ändert die Bregenzer Produktion ja etwas daran.
Weitere Aufführungen: 24. Juli, 11 Uhr; 1. August, 19.30 Uhr. Informationen auch auf der Internetseite der Festspiele.