Jeder, der im Sommer über die Schweiz nach Italien fährt oder bereits ein Wanderwochenende in unserem Nachbarland verbracht hat, kennt sie: Die Schweizer Autobahnvignette. Entweder kauft er selbst jedes Jahr für 40 Schweizer Franken die aktuelle Version oder er sieht sie jeweils auf den Windschutzscheiben eidgenössischer Autos. Doch kaum einer weiß, dass es bis vor wenigen Jahren in der Schweiz auch eine Klebe-Vignette für Fahrräder gab: Die Velovignette. Kein Drahtesel durfte in der Schweiz ohne sie unterwegs sein, ansonsten drohte ein Bußgeld von 40 Franken.
Wie die Autobahnvignette musste die Vignette fürs Rad jedes Jahr neu gelöst werden, mit aktueller Jahreszahl und neuer Grundfarbe
Jedoch wurde mit dem auch „Fahrradnummer„ oder „Fahrradkennzeichen“ genannten Aufkleber für das Velo keine Mautgebühr bezahlt. Die je nach Verkaufsstelle fünf bis acht Franken teure Vignette diente „als Nachweis für die obligatorische Haftpflichtversicherung“, wie der Pressesprecher des Schweizer Bundesamtes für Straßen (ASTRA), Benno Schmid, auf Nachfrage schreibt. Für diesen für Schweizer Verhältnisse relativ geringen Preis waren Unfallkosten von bis zu zwei Millionen Franken gedeckt.
„An der Velonummer erkennt man gut die Schweizer Ordnungsliebe und das Bedürfnis, mit Schildern und Regeln etwas zu kontrollieren“
Das sagte der damalige Konservator des Verkehrshauses der Schweiz in Luzern, This Oberhänsli, 2011 in einem Interview. Die Velovignette wurde ein Jahr später, nach rund 120 Jahren, aus dem Verkehr gezogen. Doch die Fahrradnummer war nicht nur ein Symbol schweizerischer Kontrollfreude, sondern auch einer anderen Eigenart unserer Nachbarn: des sogenannten „Kantönligeistes“.
Dem ausgeprägten Föderalismus eidgenössischer Prägung ist es geschuldet, dass die Velovignette zunächst nur vereinzelt auf kantonaler Ebene und erst viel später landesweit eingeführt wurde, wie Benno Schmid vom ASTRA bestätigt: „Bis 1933 war die Gesetzgebung über Straßenverkehr Kantonssache.“ Deshalb könne sein Amt auch nicht sagen, wann die erste Vignette in Umlauf gebracht wurde. Nachfragen beim Verkehrshaus und dem Interessensverband Pro Velo bestätigen: Das genaue Geburtsjahr der ersten Velovignette ist nicht bekannt.
Als Erfinder der Fahrradnummer gelten laut Oberhänsli die Luzerner, die sie in den 1890er Jahren einführten
Der Grund sei wohl der Tourismusboom gewesen und das damit verbundene Verkehrschaos in der gleichnamigen Hauptstadt des Kantons am Vierwaldstättersee. Um diesem Chaos Herr zu werden, führten auch weitere Kantone Verkehrsregeln und Kennzeichen auf Metallschildern für Autos und Fahrräder ein. Die Fahrradnummer wurde erst später zum Beleg für eine abgeschlossene Jahreshaftpflichtversicherung.
Selbst als die Gesetzgebungskompetenz im Straßenverkehr auf ihn übergegangen war, überließ der Bund die Entscheidung über eine obligatorische Haftpflichtversicherung bis Ende der 1950er Jahren den Kantonen. Jeder Gliedstaat brachte eigene Velo-Kennzeichen in Umlauf, bei denen Farbgestaltung und Form jedes Jahr variierten.
Erst 1960 seien konkrete Vorschriften für das Fahrradschild erlassen worden, schreibt ASTRA-Sprecher Schmid: „Dabei handelte es sich um ein Alukennzeichen, das jedes Jahr erneuert werden musste.“ Danach habe es aber nochmals fast ein Jahrzehnt gedauert, bis sich die Kantone auf eine einheitliche, rote Schilder-Grundfarbe einigen konnten, so Kurator Oberhänsli.

Ab 1990 musste dann das Fahrradkennzeichen aus Aluminiumblech nicht mehr jedes Jahr vom Rad abgeschraubt und durch ein neues ersetzt werden. „Für die Jahreshaftpflicht wurde eine Vignette geschaffen“, so ASTRA-Pressesprecher Schmid. Fortan konnte die aktuelle Etikette einfach auf die Stoßstange geklebt werden, über oder unter diejenige des Vorjahres.

Bis 2011 blieb die Vignette ein helvetisches Alleinstellungsmerkmal: Kein anderes Land verfügte über ein vergleichbares Versicherungssystem für Fahrräder. Obligatorisch war sie übrigens nicht nur für Velos, sondern auch für E-Bikes mit einer Höchstgeschwindigkeit von 25 Stundenkilometern, Motorhandwagen und Elektro-Rollstühle, wie aus den entsprechenden Verkehrsverordnungen hervorgeht.
Doch 2008 zeichnete sich das Ende der Velovignette und damit eines Stücks Schweizer Identität ab
In einer parlamentarischen Initiative forderte Philipp Stähelin, Abgeordneter der Christlichen Volkspartei der Schweiz (CVP), die Velovignette abzuschaffen. Seine schriftliche Begründung: „Die Fahrradnummern sind zu einem ‚alten Zopf‘ verkommen.“ Sie brächten unnötigen administrativen Aufwand mit sich und würden im Verkehr kaum noch kontrolliert.
Zudem verfüge der Großteil der Radfahrer bereits über eine private Haftpflichtversicherung, die auch das Fahrrad einschließe und die Vignette überflüssig mache. Stähelin hatte mit seinem Begehren Erfolg: 2011 wurde die letzte Velovignetten-Serie in Umlauf gebracht. Überlegungen, sie wieder einzuführen, gebe es nicht, so ASTRA-Sprecher Schmid.
Serie „Kuriose Schweiz“
In loser Folge schreiben wir über verblüffende Bräuche, kuriose Erfindungen und weitere Eigenarten unseres Nachbarlandes, die zum Staunen und Schmunzeln anregen.