Die Richterin beginnt gnädig. Üblicherweise wird die Anklage im Stehen verlesen, aber in diesem Fall darf die Staatsanwältin sitzen bleiben. Mit gutem Grund. Was dem 64-jährigen Rentner aus Konstanz vorgeworfen wird, umfasst 30 Anklagepunkte, und es dauert eine gute Stunde, bis die Staatsanwältin damit durch ist.

Doch es ist nicht nur der Umfang des Schriftstücks, warum Amtsrichterin Heike Willenberg von der Gepflogenheit abweicht. Wegen des unerträglichen Inhalts könnte man den Boden unter den Füßen verlieren, selbst der geständige Angeklagte zeigt sich im Verlauf der Verhandlung geschockt.

Doch da platzt der Richterin der Kragen: Das Verlesen der kinder- und jugendpornografischen Fotos und Videos sei ja schon schlimm, aber erst das Anschauen! „Ich fand‘s einfach nur widerlich“, sagt Heike Willenberg, die das Material am Wochenende vor der Verhandlung sichtete.

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Es handelt sich um tausende Fotos, hunderte Videos. Vieles davon ist von der schlimmsten Sorte. Kleinkinder – drei, vier Jahre alt –, die vergewaltigt werden, Kinder im Grundschulalter, die zum Sexualverkehr gezwungen werden, ein Mädchen, an dem sich zwei Erwachsene gleichzeitig vergreifen – so geht es in einem fort, und dazu sind menschenverachtende Chat-Kommentare dokumentiert.

Die Menschenverachtung erstreckt sich über Jahre, wobei der 64-Jährige Ordnung hält. Er sortiert die Dateien, baut seine Sammlung an Bildern und Videos auf, reicht sie in pädophilen Kreisen weiter. Es gibt Indizien, dass er seinen Neigungen seit 2012 nachgab, gesichert ist der Zeitraum von 2017 bis zu einer aufgrund von Anzeigen veranlassten Hausdurchsuchung im Februar 2020.

Wie wird man so, will die Richterin wissen.

Wann und wieso hat der Angeklagte jegliches Mitgefühl für die Kinder verloren? In ihrer Schutzlosigkeit schreien sie, wehren sich, haben Angst. Wo ist das Erbarmen? Wer vermag diese Not im Chatroom mit Aussagen wie „Geile Sklavin“ oder „Zwölf ist ein geiles Alter“ zu kommentieren?

Der Angeklagte versucht es – trotz seines vollumfänglichen Geständnisses – mit Ausflüchten. Er sei da reingeschlittert, sagt er, vielleicht war‘s die Einsamkeit, die ihn ins Netz trieb, oder die Neugier. Dann habe es eben so Unterhaltungen gegeben – und erneut setzt die Richterin zum Donnerwetter an. „Erzählen Sie mir nicht, dass Sie nichts dafür können“, empört sie sich.

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Man gerate da nicht mal eben so rein, schon gar nicht über die Dauer von Jahren. Heike Willenberg macht dem Rentner klar, dass er nicht bei Rot über die Ampel gefahren ist, sondern das Leben von Kindern zerstört hat. Denn solche wie er seien es, die den Markt der kinder- und jugendpornografischen Entmenschlichung erst ermöglichen.

Der 64-Jährige gerät in die Enge, aber so richtig verteidigen kann er sich ohnehin nicht – die Beweislast ist zu groß. Genau genommen geht es in dieser Verhandlung auch gar nicht um Anklage und Verteidigung. Richterin, Staatsanwältin, die beiden Schöffen, auch der Verteidiger suchen nur nach einem Erklärungsansatz und danach, wie man den Mann dazu bringen kann, von seinen Neigungen abzulassen.

Gefängnis, Bewährung, Therapie?

„Ich weiß nicht, was ich mit Ihnen mache“, sagt Heike Willenberg und räumt ein, dass ihr dergleichen in ihrer langjährigen Tätigkeit als Richterin so noch nicht passiert sei. Sie, auch die Schöffen, brauchen Pausen, beraten sich.

Und der Verteidiger? Er ringt mit sich, hält sich während der Verhandlung zurück. Im Plädoyer geht er über das hinaus, was die Staatsanwältin in ihrer Begründung für eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten formuliert. Den Opfern sei unsagbares Leid zugefügt worden, sagt er, spricht von Mord an den Kindern, weil ihre Seelen getötet worden seien. Nur mit viel Glück und therapeutischer Hilfe hält er eine Rückkehr der Opfer zu einem normalen Leben für möglich.

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Aber ist der Gesellschaft geholfen, wenn man den Täter hinter Schloss und Riegel bringt? Für zwei, drei Jahre sei das bei einer Freiheitsstrafe der Fall, danach aber sehe die Prognose eher schlecht aus. Die Isolation des Rentners werde danach noch größer sein, und damit wachse die Gefahr eines erneuten Auslebens seiner Neigungen.

Die Aussetzung einer zweijährigen Strafe zur Bewährung mit Auflagen einer Sexualtherapie könne dagegen zur Einsicht des Mannes führen, dass „er sich zu bewähren hat bis ans Ende seines Lebens“. Ansätze dazu sieht der Verteidiger: Seit jener Hausdurchsuchung ist sein Mandant nicht mehr auffällig geworden, er bemüht sich um eine Therapie, hat ein Leben ohne Vorstrafen aufzuweisen.

Während des Plädoyers bricht der Angeklagte in Tränen aus, die Anteile von Reue und Selbstmitleid aber lassen sich nur schwer abschätzen. Der Verteidiger jedenfalls räumt ein, dass er für dieses Mal froh über seine Rolle als Antragsteller ist – und beneidet kein bisschen die der Richterin.

Heike Willenberg berät sich erneut mit den Schöffen, am Ende gibt die Einschätzung mangelnden Unrechtsbewusstseins bei dem Angeklagten den Ausschlag: Der 64-Jährige muss für zwei Jahre und fünf Monate ins Gefängnis.