Die Entscheidung, die Schöffen und Richter in dem Prozess vorm Landgericht Konstanz fällen müssen, ist folgenschwer. Es geht in dem Fall unter Vorsitz von Richter Joachim Dospil um nichts weniger als die Frage, ob ein junger Mann für lange Zeit in die geschlossene Psychiatrie muss, in die Sicherungsverwahrung. Weil er eine Gefahr für die Öffentlichkeit ist.

Schlafenden Mitpatienten mit Stuhl geschlagen

Der junge Mann ist 23 Jahre alt und leidet an paranoider Schizophrenie. Wenn die Stimmen in seinem Kopf ihm Dinge befehlen, tut er sie. Zum Beispiel, seine Pfleger im Zentrum für Psychiatrie Reichenau zu schlagen – oder einen schlafenden Mitpatienten mit dem Stuhl. Seit seinem 18. Lebensjahr ist der Angeklagte Patient im ZfP.

Das könnte Sie auch interessieren

Sein Jugendgerichtshelfer sagt, er sei nicht nur entwicklungsverzögert, bei ihm sei gar keine Entwicklung erkennbar.

Stimmen in seinem Kopf drängen ihn

Die Staatsanwaltschaft Konstanz wirft ihm schwere Körperverletzung an insgesamt vier Personen, einem Mitpatienten und drei Pflegern in den Jahren 2017 und 2018 vor. Die Staatsanwaltschaft glaubt ihm, dass Stimmen in seinem Kopf ihn zu den Taten drängten. Genauso wie sie glaubt, dass er eine Gefahr für die Öffentlichkeit ist.

Der blonde Mann, der unter den wachsamen Augen von zwei bewaffneten Justizbeamten auf der Anklagebank Platz genommen hat, wirkt mit seinem Kapuzenpulli und dem schlurfenden Gang wie ein typischer Jugendlicher. Jünger als seine 23 Jahre, fast ein wenig schmächtig, so, als wäre sein Körper in Breite und Länge noch nicht ausgewachsen.

Das könnte Sie auch interessieren

Vielleicht ist es aber auch nur die gebückte Haltung, die diesen Eindruck vermittelt. Mit leiser, eher hoher als tiefer Stimme bestätigt er, was sein Verteidiger Nicolas Doubleday sagt. Dass er die Taten begangen habe. Mit dem Stuhl habe er allerdings nicht auf den Kopf geschlagen, sondern auf den Rücken des Mitpatienten. „Es tut mir leid“, entschuldigt er sich.

Verteidiger: Für Klient ist Prozess eine Tortur

Doch die meiste Zeit spricht Verteidiger Doubleday für ihn. Für seinen Klienten sei es ohnehin schon sehr schwer, dem Gericht beizuwohnen, ja, eine Tortur. „Als ich ihn das erste Mal traf, 2019, war er nach fünf Minuten weg, da war kein Gespräch mehr möglich“, so Doubleday. Und tatsächlich geht der Angeklagte nach einer halben Stunde angespannt auf und ab, sagt bald: „Ich muss das beenden, ich möchte das nicht.“

Eine Pause wird angeordnet, damit er sich beruhigen kann. Man fragt sich, wie lange er es wohl aushält.

Jahr für Jahr, Monat für Monat auf die Station 31

Laut den Akten ist der junge Mann kein einfacher Patient. Seit er im Zentrum für Psychiatrie Reichenau lebt, muss er in kalendarischer Regelmäßigkeit auf Station 31 getragen werden: Jahr für Jahr, manchmal Monat für Monat. Die 31 ist die Akutstation für Patienten mit Ausbrüchen, Selbstmordversuchen, psychotischen Anfällen. Dort sollen sich drei von vier Gewaltakten, wegen denen er angeklagt ist, ereignet haben.

Das könnte Sie auch interessieren

Als Zeugen geladen sind Pfleger des ZfP, eine Ärztin und eine Krankenschwester. Die Folgen des Angriffs am Mitpatienten mit dem Stuhl seien laut Ärztin nicht behandlungsbedürftig gewesen. Drei zu verschiedenen Zeitpunkten von ihm geboxte Pfleger trugen davon: ein blaues Auge, etwas Blut an der Lippe und noch ein blaues Auge.

Er hat sich sofort für das blaue Auge entschuldigt

„Er hat sich danach sofort entschuldigt und gesagt, dass es die Stimmen waren, die ihm das befohlen haben“, sagt einer davon. Und, dass er eher ein ruhiger Patient sei. Einer, der Bescheid sage, wenn den Druck spüre, zuzuschlagen.

Reicht das aus, um jemanden jahrelang einzusperren?

In Paragraph 63 des Strafgesetzbuches werden die Voraussetzungen zum Maßregelvollzug, also der Einweisung in eine geschlossene Psychiatrie, wie sie dem Angeklagten droht, erläutert: Das Gericht ordnet die Unterbringung an, heißt es da, „wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden zu erwarten sind“.

Triff das bei dem entwicklungsverzögerten Patienten zu?

Ende März 2019 wurden seine Angriffe härter. Gegen sich selbst. Vier Selbstmordversuche innerhalb weniger Monate: Ein Schnitt mit dem Messer in die Kehle, viele in die Arterien am Handgelenk.

Das könnte Sie auch interessieren

Bei dem Urteil geht es nicht nur um das, was passiert ist, sondern das, was passieren könnte. Der psychologische Gutachter wird später sagen, dass zwischen Aggression gegen sich selbst und gegen andere bei paranoid Schizophrenen nur ein schmaler Grat liege.

Eigentlich war das Urteil des Gutachters, der ihn zweimal traf und die ärztlichen Unterlagen bis Mai 2020 vorliegen hatte, schon ausgereift und lautete: Die Behandlung der Krankheit paranoide Schizophrenie sei nicht erfolgreich gewesen, weil der Patient gegen sich und andere aggressiv sei, die Aggression nicht steuern könne, Stimmen höre.

In der Zeit des Wartens hat sich etwas getan

Aber: Der Prozess gegen ihn wegen schwerer Körperverletzung sollte eigentlich schon 2019 stattfinden, dann 2020. Jedes Mal wurde er verschoben, weil der Mann nicht verhandlungsfähig gewesen sei.

Der Betreuer und der Verteidiger berichten nun, dass sich in dieser Zeit des Wartens etwas getan hätte.

Das sagt der Betreuer: „Meine Aufgabe war, dass er nach dem Schnitt in die Kehle in eine Abteilung kommt, die besser betreut, besser überwacht ist.“ Er brauchte Monate. Dann glückte es: Er ist nun in einer Wohngruppe.

Das könnte Sie auch interessieren

„Mein Eindruck ist, dass er sich insgesamt beruhigt hat“, sagt der Betreuer. „Bei früheren Besuchen war es nach zwei Minuten vorbei, dass er hier vor Gericht so mitmacht, allein, dass er hier steht, auch, wenn es umständlich ist.“ Er blickt zum Mandanten, der mal auf- und abläuft, mal mit gesenktem Kopf auf einem Stuhl sitzt. Er sagt immer wieder: „Wie lange noch?“, doch er bleibt.

Sogar alleine in der Stadt einkaufen

Der psychiatrische Sachverständige befragt ihn nun direkt: „Seit wann ist es besser mit den Stimmen?“ „Ich habe nicht nachgezählt, ein Jahr mindestens.“ „In der Akte steht immer wieder was von Schlagdruck, haben Sie das auch nicht mehr? „Nein“. „Fühlen Sie sich wohl in Haus 18?“ Er nickt. „Haben Sie schon überlegt, wie es weitergehen soll mit Ihrem Leben?“ „Ich möchte dort bleiben.“

Er gehe sogar einmal die Woche in die Stadt einkaufen. Und: Es gab keine Vorfälle mehr, seitdem er in der Wohngruppe ist.

Gutachter: Sicher nicht befriedigend

Der Gutachter resümiert: „Der Zustand ist sicher nicht befriedigend.“ Doch: „Vor zweieinhalb Jahren habe ich ihn kennengelernt. Da wäre das, wie er heute vor Gericht durchhält, undenkbar gewesen.“

Das könnte Sie auch interessieren

Natürlich, schränkt er ein: Die Gefahr, dass die Psychose wiederkomme, sei hoch. Wenn der beschützende Rahmen in der Wohngruppe wegfalle, die Medikation und der Patient wieder Drogen nähme.

„Die Frage ist nun, reicht dieses Maß an Fremdgefährdung, diese drei Fälle, aus, um eine geschlossene Unterbringung zu begründen?“

Freispruch so vielleicht nicht möglich

Das Gericht entscheidet: Nein, es reicht nicht. Nicht mehr. Die Voraussetzungen, sagt Richter Dospil, seien nicht gegeben. Nicht mehr. Keine Gewaltausbrüche mehr, keine Stimmen. Ohnehin sei die Gewalt, die es in den Jahren 2017 und 2018 gegeben hätte, keine besonders schwere.

Es ist ein Freispruch, der so im Jahr 2020, vor der Verlegung des Patienten, vielleicht nicht möglich gewesen wäre. Für den Betreuer hat es sich gelohnt, für den Platz in der Wohngruppe zu kämpfen. Und für den jungen Mann, den beinahe fünfstündigen Prozess durchzuhalten.