Anina Kemmerling

Es ist kurz vor neun Uhr an einem Freitagmorgen. Im Amtsgericht in Singen brennen die Lichter der Büros, Telefone klingeln, die Post wird reingetragen. Amtsgerichtleiter Johannes Daun bereitet sich auf die erste Verhandlung des Tages vor. Heute muss er über Geldbeträge von insgesamt 65.000 Euro, die Räumung einer Wohnung und unbezahlte Umzugskosten verhandeln.

Für die ersten beiden Prozesse musste Daun die hohen Forderungen überprüfen und durchrechnen. „In der Regel nimmt die Vorbereitung auf eine Verhandlung zwischen 15 Minuten und vier Stunden in Anspruch. Manchmal ist der Prozess schneller vorbei, als die Vorbereitung gedauert hat“, sagt Daun.

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Aussage gegen Aussage

Als er den Verhandlungssaal im Erdgeschoss des Singener Amtsgerichts betritt, warten der Kläger und die Beklagten samt ihren Anwälten bereits. Es ist das erste Zusammentreffen der beiden Parteien. Der Kläger fordert knapp 21.000 Euro von seinen ehemaligen Mietern. Sie hätten nach sieben Jahren die Wohnung in einem katastrophalen Zustand hinterlassen, erklärt er.

Böden, Wände, Rollläden seien kaputt, es gebe tiefe Dellen in den Wänden, Schimmelbefall und der Garten sei verwahrlost. Die Wohnung sei beim Auszug so schlecht gestrichen worden, dass sie nicht an den Neumieter weitergegeben werden konnte. Außerdem stehe noch eine Nebenkostennachzahlung aus. Die ehemaligen Mieter allerdings bestreiten diese Schilderung.

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„In einem Zivilprozess geht es meistens um Geld, das vom Kläger einverlangt wird. Oft sind es Miet- und Kaufverträge, die nicht eingehalten werden“, erklärt der Amtsgerichtsleiter vor der Verhandlung. Bei einer solchen ersten Güteverhandlung soll mit einem sogenannten Vergleich eine Lösung gefunden werden, mit der beide Parteien einverstanden sind.

Bringt ein Vergleich die Lösung?

In diesem Fall gelingt das nicht. Streitpunkt ist auch der Wert beschädigter Objekte: Der Vermieter veranschlagte Neupreise, obwohl sie schon gebraucht waren. „Da es hier nicht um Schönheitsreparaturen, sondern um Sachbeschädigung geht, wird die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegen“, sagt Richter Daun und schlägt einen Vergleichsbetrag vor: 13.180 statt 21.000 Euro.

Das Singener Amtsgericht in der Erzbergerstraße.
Das Singener Amtsgericht in der Erzbergerstraße. | Bild: Freißmann, Stephan

Im Saal beginnt das Grübeln. Doch die Beklagten lehnen letztlich ab. „Für meine Mandanten ist die Summe astronomisch“, sagt der Anwalt des Ehepaars. Er willigt aber ein, 2620 Euro für den Mietkostenausfall und die ausstehenden Nebenkosten zu zahlen. Das ist ein Teilvergleich.

Beide Parteien gehen unzufrieden

Über die restlichen 10.560 Euro wird in einem weiteren Verfahren mit einem Gutachten erneut verhandelt. Beide Parteien gehen unzufrieden aus dem Verfahren. Der Klägervertreter hätte einen Vergleich befürwortet. Anders sieht es die Mieterin: „Die Verhandlung war ungerecht. Wir haben wie normale Menschen gelebt und normal gestrichen. Und die Wohnung hatte schon beim Einzug vor sieben Jahren viele Mängel.“

Vermieter fordert 40.000 Euro

Auch in der nächsten Verhandlung geht es um Schäden, die nach einem langjährigen Mietverhältnis entstanden sind. Allerdings sind sich nicht nur Kläger und Beklagte uneinig. Auch zwischen den Beklagten – einem getrenntlebenden Ehepaar – gibt es Unstimmigkeiten. „Der Mann akzeptierte die Klage zunächst und unterschrieb eine Liste, die alle Mängel anerkannte“, erklärt Daun vor dem Prozessbeginn. Die Frau habe die Vorwürfe nicht akzeptiert, woraufhin der Mann rückwirkend doch auch widersprochen habe.

Zehn Jahre lang lebten die beiden in dem Haus, das nach Angaben des Vermieters bei der Übergabe kernsaniert war. Nach der Trennung zogen die beiden Mieter aus – und von dem Haus sei kaum mehr etwas zu erkennen gewesen. Das lässt zumindest die fünfseitige Klageschrift vermuten, in welcher der Schaden aufgelistet wird. Der Kläger fordert rund 40.000 Euro von dem Ex-Ehepaar.

Vermieter hat sich verrechnet

Allerdings hat sich der Vermieter auch in diesem Fall verrechnet. Deshalb schlägt der Amtsgerichtsleiter eine Einigung auf 16.000 Euro vor. „Aufgeteilt in 5000 Euro für die Frau und 11.000 Euro für den Mann, der die Mängelliste unterschrieben hat“, erklärt Daun.

Der Kläger und die beklagte Ehefrau akzeptieren den richterlichen Vorschlag, wenngleich sich die Frau erhofft hatte, ohne Zahlung aus der Verhandlung zu kommen. Der Ex-Mann allerdings befürchtet, die auferlegten Kosten nicht tragen zu können. Seit der Trennung sei er arbeitsunfähig.

„Mein Konto ist im Minus“

„Ich habe kein Eigentum mehr, nichts. Mein Konto ist im Minus“, gibt der Mann seinem ehemaligen Vermieter preis. Dieses Gespräch zeigt Wirkung: Der Kläger willigte ein, die Zahlung noch länger aufzuschieben, sofern der Mann eine ärztliche Bescheinigung vorlegen kann.

„Ich verspreche dir, ich zahle das Geld, sobald ich kann“, beteuert der ehemalige Mieter und verlässt nach dem Beschluss schnell den Verhandlungssaal. Seine Ex-Frau zeigt sich enttäuscht. Ihr Rechtsanwalt spricht ihr zu: „Richtig zufriedenstellend sind solche Verhandlungen nie. Manchmal ist es allerdings einfacher, mit einem blauen Auge davonzukommen.“

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Keine Enttäuschung über fehlende Urteile

Zwei von vier Prozessen sind für diesen Tag abgeschossen, ohne dass ein Urteil gesprochen wurde. „Nun müssen die Sachen eben streitig werden, womöglich nach ausführlicher Beweisaufnahme“, sagt der Richter. Enttäuscht über den Ausgang der Prozesse ist er nicht.

Kurz vor 13 Uhr betreten die nächsten streitenden Parteien das Singener Gericht. Diesmal sind lediglich zwei Anwälte erschienen. Es geht um die Räumung und Freigabe einer Wohnung. Der ehemaligen Mieterin wird vorgeworfen, in einen Mietrückstand von 4500 Euro geraten zu sein, was eine fristlose Kündigung rechtfertigen würde.

Das Treppenhaus im Singener Amtsgericht.
Das Treppenhaus im Singener Amtsgericht. | Bild: Tesche, Sabine

Doch der Vermieter und die Mieterin sind sich uneinig über die vereinbarte Miete. Der Kläger – ein großes Mietunternehmen – gibt an, dass eine monatliche Miete von 1009,03 Euro vereinbart wurde. Die Mieterin spricht von 897,03 Euro im Monat inklusive einer Mietminderung von 25 Prozent. Ein Blick auf den Mietvertrag war vorab nicht möglich, wie Daun erklärt.

Erst zum Prozess wurde von der Klägervertreterin ein Vertrag vorgelegt, der einen Mietbetrag von 923,03 Euro angab. Im Sitzungssaal scheinen Kläger und Beklagter zu keiner Einigung zu kommen. Die Mieterin wolle weiterhin in der Wohnung bleiben, das Unternehmen möchte sie kündigen. Das Verfahren wird nach Prüfung des Mietvertrags fortgesetzt.

Umzug wurde doppelt so teuer

Nach drei Fällen, bei denen sich Mieter und Vermieter streiten, geht es nun um einen Umzug. Ein Geschäftsmann aus Konstanz beauftragte ein Unternehmen, um sein Büro in ein höheres Stockwerk zu verlegen. „25 Umzugskartons, inklusive Drucker und Scanner“, liest Richter Daun die Angaben aus einem vom Kläger ausgefüllten Fragebogen vor. Auf dieser Grundlage veranschlagte das beauftragte Umzugsunternehmen die Kosten auf 1300 Euro.

Tatsächlich waren es am Umzugstag allerdings 45 Kartons und es handelte sich um einen Bürodrucker, der 400 Kilogramm wog. Auch schwere Stahlschränke wurden im Fragebogen nicht erwähnt. Das habe den Umzug erheblich erschwert, wie der Anwalt der Beklagten beschreibt. Statt 20 Stunden benötigten die Umzugshelfer 55 Stunden – also mehr als doppelt so lang wie kalkuliert. „Ich tue mich schwer, die Schuld hier beim Umzugsunternehmen zu sehen“, sagt Daun vor der Verhandlung.

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Doch der Kläger wehrt sich gegen die auf 2600 Euro erhöhte Rechnung: „Ein normales Umzugsunternehmen kommt vorher vorbei und sieht sich die umzuziehenden Möbel an.“ Das unqualifizierte Personal sei der Hauptgrund für die Verzögerung gewesen. „Die standen nur rum und wussten nicht, was zu tun ist, als der Drucker durch das Treppenhaus getragen werden sollte“, beklagt der immer unruhiger werdende Mann.

In keinem der Fälle kommt es zu einer Einigung

Daun schlägt einen Einigungsbetrag von 2000 Euro vor. Doch diesem stimmten weder die Kläger- noch die Beklagtenseite zu. Im weiteren Verfahrensverlauf soll der realistische Zeitaufwand durch einen Sachverständigen und Zeugen geprüft werden.

So endet ein sechsstündiger Prozesstag, bei dem es in keinem der vier Fälle zu einer endgültigen Einigung gekommen ist. Für Johannes Daun ist das nicht überraschend. „Insgesamt habe ich 879 Verfahren geführt, dabei kam es in nur 19 Prozent der Fälle zu einem Vergleich.“ Um ein gerechtes Ende für beide Parteien zu finden, braucht es manchmal mehr als einen richterlichen Kompromissvorschlag.