Im Frühsommer dieses Jahres bekommt Friedrich Engelke ein Paket. Es wiegt rund 20 Kilo. Zu schwer, als dass er es allein auf die Terrasse tragen kann. Zwischen akkurat eingelegten Styroporabtrennungen liegen zehn Stolpersteine. Zehn Geschichten. Zehn Schicksale. Zehn ausgelöschte Leben. Die Oberfläche glänzt im einfallenden Licht.
Fünf dieser zehn Steine werden am 21. Oktober in der Villinger Innenstadt verlegt werden. Ein, wenn man so will, historischer Tag für Friedrich Engelke und seinen Verein Pro Stolpersteine. Und für die Stadt VS. Im Januar 2020 hatte der Gemeinderat nach Jahren der Diskussion einer Verlegung nun doch zugestimmt. Seit dem mussten geplante Termine für die Verlegung zwei mal wegen Corona verschoben werden.
Jeder Stein ist rund zehn mal zehn Zentimeter groß, zwei Kilo schwer, aus normalem Pflastersteinmaterial gefertigt. Die Oberfläche beklebt mit einer Messingplatte in die jeder Buchstabe von Hand eingeschlagen wurde. Ein Stück Geschichte. Ein Stück Schuld. Ein Stück Gedenken. Auf einem steht: „Hier wohnte Josef Boss, JG. 1888, Gedemütigt/Entrechtet, Tot 22.12.1939, Stuttgart.“
Neben den fünf Steinen aus dem Karton auf Engelkes Tisch werden am 21. Oktober noch 13 weitere Steine verlegt werden. Von Gunter Demnig, dem Künstler, persönlich. So, wie er es bei allen rund 75.000 Stolpersteinen zuvor in Deutschland und Europa auch getan hat.

Um 11.30 Uhr wird er mit seinem Transporter vor dem Riettor stehen und in der Rietstraße 40 die ersten vier Stolpersteine zum Gedenken an die Familie Schwab anbringen. Der Bauhof, so wünschte es der Künstler, darf im Vorfeld nichts vorbereiten.
„Ich möchte den Verein eigentlich auflösen.“Friedrich Engelke, Vorsitzender Pro Stolpersteine
Rund ein Jahr kann es dauern, von der ersten Anfrage bei Gunter Demnig in Köln bis zur endgültigen Fertigstellung eines Stolpersteins. In der Zeit muss Engelke und sein Verein mitunter unzählige Nachweise, Recherchematerial und Hinweise einreichen. Bei dem ein oder anderen Schicksal, sagt Engelke, mussten sie sich ganz schön auf die Hinterbeine stellen. Bis jetzt haben sie aber für jedes eingereichte NS-Opfer aus Villingen-Schwenningen eine Bestätigung bekommen.
Auch für Josef Boss, JG. 1888, Gedemütigt/Entrechtet, Tot 22.12.1939, Stuttgart. Sein Stolperstein und die seiner Familie werden am 21. Oktober, um 12 Uhr in der Oberen Straße 1, wo heute das Schuhoutlet ist, verlegt. In der Gerberstraße 33, dort wo früher der jüdische Betsaal war und heute das Hörstudio Geers Mieter ist, werden Steine für die Familie Schwarz verlegt und um 13 Uhr schließlich in der Waldstraße 11, dort, wo heute ein Autohaus ist, für die Familie Luis Bikart.
Auch einige Angehörige und entferntere Verwandte der Opfer werden dabei sein.

OB Roth wird nicht dabei sein, er ist auf Exkursion mit dem Kreistag, was er, so sagt es Engelke, sehr bedauere. Die Zusammenarbeit mit der Stadt sei inzwischen jedenfalls großartig, sagt Engelke. Auch für die Stadt bedeuten Stolpersteine – die letztlich behandelt werden müssen wie Kunstgegenstände – einen zusätzlichen Arbeitsaufwand. Wird beispielsweise eine Straße neu asphaltiert oder umgestaltet, muss die Stadt dafür sorgen, dass die Steine genau dort wieder angebracht werden, wo sie hingehören.
Engelke hat gerade viel zu organisieren. Und es ist nicht immer leicht. Nicht nur mit der Stadt in den vergangenen Jahren. Auch mit den Angehörigen. Nicht alle wollen eine Erinnerung wie diese. Wenn Engelke mit ihnen Kontakt aufnimmt, lautet die erste Fragen an ihn oft: „Wann ist Ihr Vater geboren?“ Engelke kann das verstehen. Verstehen, dass der Schmerz der Angehörigen nie nachlässt. Verstehen, dass er im Lauf des Lebens sogar noch stärker wird.
Voraussichtlich im März kommenden Jahres sollen dann noch einmal etwa 20 Stolpersteine verlegt werden. Dann auch erstmals in Schwenningen.
Das Ende für Pro Stolperstein e.V.
Ein Stein kostet – inklusive Verlegung – 120 Euro. Für insgesamt 40 Stolpersteine haben sie im Verein Patenschaften abgeschlossen. Überhaupt, der Verein. 2013 hat Engelke ihn gegründet. 2022 möchte er ihn auflösen. Das weiß nur noch keiner. Angedeutet habe er es einmal bei den anderen Mitgliedern. Öffentlich ausgesprochen hat er es noch nicht. Bis zu diesem Septembernachmittag auf seiner Terrasse. „Wenn es nach mir persönlich geht, dann möchte ich den Verein eigentlich auflösen“, sagt er.
Die Ziele, die sie sich in der Satzung gesteckt haben, hätten sie nun erreicht. Wozu also noch an einem Verein festhalten? Zumal der Großteil im Vorstand – wie er selbst auch – an die 80 Jahre alt ist. Die Nachfolge würde er am liebsten in einer Initiative sehen. Das Projekt Stolpersteine soll weiter gehen. Nur eben ohne ihn. „Ich möchte meinen dritten Lebensabschnitt bezüglich des Vereins ad acta legen.“ Zur offiziellen Auflösung bedarf es freilich noch einer Mitgliederversammlung. Engelke kann sich aber kaum vorstellen, dass eine Mehrheit dagegen stimmen würde. „Die müssten dann ja einen neuen Vorstand finden.“
Kein Sieg, aber etwas anderes
Und jetzt, Herr Engelke? Nach so vielen Jahren, fühlt sich das für Sie wie ein Sieg an? Engelke kneift die Augen noch ein wenig mehr zusammen als sonst. Ein bisschen, weil die Sonne ihn ein wenig blendet, ein bisschen aber auch, weil er das Wort Sieg in dem Zusammenhang nicht mag.
Kurz nach dem der Gemeinderat für die Verlegung der Stolpersteine in VS gestimmt hatte, erzählt Engelke, habe man ihn gefragt, wie er sich jetzt fühle. „Ich habe gesagt: Ich schäme mich jetzt nicht mehr so sehr.“ Wenn er an diesem Nachmittag im September auf die Stolpersteine auf seinem Tisch sieht, dann kann er sofort zu jedem Namen die komplette Geschichte erzählen. Er hat sie alle im Kopf. Hunderte Daten. Hunderte Lebensstationen. Alle Tode.
Irgendwann wird er dann über die Steine gehen, vielleicht sind sie da schon ein wenig abgetreten. Er muss sich dann nicht mehr schämen. Er darf dann aber auch ein bisschen stolz sein. Auf sich. Seine Arbeit. Seinen Verein. Und den Kampf gegen das Vergessen.