Nach Jahrzehnten des Wartens und Kämpfens: So wurden die ersten Stolpersteine in VS verlegt
Über viele Jahre hat der Verein Pro Stolperstein dafür gekämpft, dass auch in VS den Opfern des Nationalsozialismus gedacht wird. Am 20. Oktober, um 11.30 Uhr, war es dann soweit: Der Künstler Gunter Demnig hat in der Rietstraße den ersten von insgesamt 18 Gedenksteinen verlegt.
Der Kölner Künstler Gunter Demnig verlegt am Mittwoch die ersten vier Stolpersteine in der Rietstraße 40. Zum Gedenken an die Familie Schwab.
| Bild: Hans-Juergen Goetz
Am 22. Oktober 1940 werden die Geschwister Martha, Heinrich und Sally Schwab aus ihrer Wohnung in der Rietgasse Haus Nummer 2 in Villingen nach Gurs deportiert.
Martha wird von dort am 8. August 1942 nach Ausschwitz transportiert. Aus ihrem Transport werden nur ein paar Männer zur „Arbeit“ selektiert. Die mehr als 700 Frauen und Kinder werden am Tag der Ankunft umgebracht. Auch Martha Schwab.
Lotte Schwab, die Tochter von Sally, kam erst nach Gurs und später in ein Kinderheim. Von dort kam sie nach New York zu entfernten Verwandten. Sie überlebte.
Marthas Brüder, Heinrich und Sally Schwab, werden am 26. Februar 1943 in Viehwagen von Gurs über Drancy und Riga in das KZ Lublin-Majdanek gebracht. Sie erreichen das KZ am 4. März 1943. Am selben Tag werden sie ermordet.
Jetzt, 81 Jahre nach der Deportation der Familie aus Villingen, heißt die Rietgasse Haus Nummer 2 Rietstraße 40. Nun, 78 Jahre nach der Ermordung Heinrich und Sally Schwabs durch die Nazis, liegen in der Rietstraße 40 die ersten Stolpersteine der Stadt Villingen-Schwenningen.
In der Rietstraße liegen nun vier Stolpersteine zum Gedenken an die Familie Schwab.
| Bild: Hans-Juergen Goetz
Es ist kurz vor 11.30 Uhr, als der Kölner Künstler Gunter Demnig den ersten Pflasterstein aus dem Gehweg löst, direkt vor dem Drogeriemarkt. Er macht alles selber. Er verbittet sich, dass jemand von der Stadt, beispielsweise die Technischen Dienste, die Stelle vorbereiten. So hat er es bei allen rund 75.000 Steinen gemacht, die er in Deutschland und Europa bereits verlegt hat.
Die Arbeit beginnt in der RietstraßeVideo: Ganter, Anja
Jeder Stolperstein ist rund zehn mal zehn Zentimeter groß, zwei Kilo schwer, aus normalem Pflastersteinmaterial gefertigt. Die Oberfläche beklebt mit einer Messingplatte, in die jeder Buchstabe von Hand eingeschlagen wurde.
Der erste Stein wird eingesetztVideo: Ganter, Anja
Knapp 100 Menschen sind zur Verlegung gekommen. Darunter auch einige Schüler. Und zwischen den Köpfen blitzt der ein oder andere weiße Schirm mit der Aufschrift „Omas gegen rechts“ hervor.
Rund 100 Menschen sind zur Verlegung der ersten Stolpersteine in VS gekommen.
| Bild: Hans-Juergen Goetz
Nach etwa 20 Minuten fegt Gunter Demnig mit einem kleinen Besen den überschüssigen Mörtel ab. Dann wischt er mehrmals mit einer nassen Kelle darüber. Er schlägt noch zwei Mal auf einen Pflasterstein. Bevor er aufsteht, einen Handschuh abstreift und mit einem Papiertaschentuch den restlichen Dreck fein säuberlich von den Steinen wischt. Die Oberfläche glänzt nun im einfallenden Licht. Es sieht aus, als hätten sie schon immer da gelegen.
Die ersten vier StolpersteineVideo: Ganter, Anja
Demnig zieht den Handschuh wieder an, nimmt seine zwei Eimer in die Hände und geht zu seinem roten Transporter. Das war‘s. Während der ganzen Zeit hat er kein Wort gesprochen. Wozu auch? Die Kunst ist seine Sprache. Weiter zur nächsten Station.
Friedrich Engelke, der als Vorsitzender des Vereins Pro Stolpersteine jahrelang für diesen Tag gekämpft hat, sagt auch nicht viel. Seinen Hut hält er während der Verlegung in der Hand, es sieht beinahe ein wenig andächtig aus. „Erleichterung“, sagt er, als die ersten vier Steine dort liegen. „Erleichterung, dass jetzt Stolpersteine liegen.“
In der Gerberstraße 33 geht es weiter. Es wird staubig und dreckig, murmelt Demnig. Dann holt er die Steinfräse.
In der Gerberstraße kommt schweres Gerät zum Einsatz, um den Straßenbelag zu lösen.
| Bild: Hans-Juergen Goetz
Auch Christa Lörcher war dabei. Sie liest in der Gerberstraße die Geschichte von Bertha Schwarz. Der heutige Tag ist für sie ein Grund zur Freude. „Einfach schön, dass es gelungen ist“, sagt sie. „Zwar erst im dritten Anlauf, aber immerhin.“ Jetzt, sagt sie, könne man nur hoffen, dass es auch von der Bevölkerung angenommen werde „Auch von denen, die vielleicht eher dagegen waren.“
In der Gerberstraße 33 geht es weiterVideo: Ganter, Anja
Insgesamt vier Stolpersteine werden in der Gerberstraße 33 verlegt.
Bild: Hans-Juergen Goetz
Gegen 13 Uhr geht es in die Waldstraße 11. Dort werden fünf Steine für die Familie Bikart verlegt.
Zum Gedenken an die Familie Bikart liegen nun fünf Stolpersteine in der Waldstraße.
| Bild: Hans-Juergen Goetz
Die letzten fünf Steine für heute werden schließlich in der Oberen Straße 1 verlegt. Es ist inzwischen früher Nachmittag, als Gunter Demnig mit dem roten Lieferwagen vorfährt. Er hat alles Werkzeug, das er braucht, selbst dabei.
In der Oberen Straße liegen die Steine für Familie Boss.
| Bild: Hans-Juergen Goetz
Insgesamt 18 Steine wurden so am Mittwoch in der Villinger Innenstadt verlegt.
Bild: Müller, Cornelia
Am 6. März 2022 sollen noch weitere Stolpersteine verlegt werden. Dann auch erstmals in Schwenningen.
Der Verein Pro Stolpersteine wird sich wohl in näherer Zukunft auflösen, so will es Friedrich Engelke. Am liebsten wäre ihm, das Ganze würde dann in einer Initiative fortgeführt werden. Die größte Arbeit jedenfalls, haben sie bereits getan.
Der Streit um die Stolpersteine in VS
2004 und 2013 lehnte der Gemeinderat die Verlegung von Stolpersteinen ab, obwohl sich zahlreiche Bürger und Initiativen dafür stark gemacht hatten. Nach der Ablehnung 2013 gründete sich der Verein Pro Stolperstein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Schicksal der jüdischen Familien, die Opfer des Nazi-Terrors geworden sind, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. In sieben Jahren hat der Verein fast 80 Mahnwachen sowie weitere Veranstaltungen organisiert, die nicht nur auf das Schicksal der jüdischen Mitbürger aus Villingen und Schwenningen aufmerksam machen wollen. Im Januar 2020 dann beschloss der Gemeinderat mit großer Mehrheit, diese Form des Gedenkens für Villingen-Schwenningen zuzulassen und sich an dem Kunstwerk „Stolpersteine“ des Künstlers Gunter Demnig zu beteiligen.