In Kreuzlingen haben zwei Jugendliche vor einigen Tagen einen Pädophilen überführt. Dachten sie zumindest. Ein 18- und ein 19-Jähriger haben sich im Internet als 16-jähriges Mädchen ausgegeben und damit einem 43 Jahre alten Mann eine Falle stellen wollen. Als das dem vermeintlichen Täter beim Treffen bewusst wurde, sei er ins Wirtshaus zum Bären geflüchtet und die jungen Männer ihm nach.

Im Restaurant habe jemand die Polizei alarmiert, die daraufhin alle drei aufs Revier brachte, wie Roxanne Gräflein, Mediensprecherin der Kantonspolizei Thurgau, bestätigt. Spätestens mit diesem Vorfall ist der Trend des Pädophilen-Jagens (Pedo-Hunting) im Thurgau angekommen.

Als Pedo-Hunter bezeichnen sich Gruppen oder Einzelpersonen, die online Pädophile anlocken, um dann bei einem Treffen mutmaßliche Sexualstraftäter zu identifizieren und zu überführen oder in Selbstjustiz zu bestrafen. Damit wird das staatliche Gewaltmonopol aber nicht nur untergraben und die Arbeit der Justiz diskreditiert, sondern damit gehen auch Risiken einher. Gerade dann, wenn falsche Anschuldigungen erhoben werden. Und genau das ist in diesem Fall geschehen.

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Was die jungen Männer, die mit der Zeitung „20 Minuten“ gesprochen haben, nicht wussten: Mit dem 16. Geburtstag gilt das Schutzalter nicht mehr. Ab dann sind – auch sexuelle – Beziehungen zu Erwachsenen in der Schweiz erlaubt. „Es ist nichts Strafrechtliches vorgefallen“, schreibt Polizeisprecherin Gräflein deshalb dazu. Entsprechend habe der zu Unrecht als Pädophiler beschimpfte Mann nichts zu befürchten. Der 18- und der 19-Jährige könnten allerdings wegen übler Nachrede belangt werden.

Roxanne Gräflein, Mediensprecherin der Kantonspolizei Thurgau, erklärt: „Es ist nichts Strafrechtliches vorgefallen.“ Die jungen Männer ...
Roxanne Gräflein, Mediensprecherin der Kantonspolizei Thurgau, erklärt: „Es ist nichts Strafrechtliches vorgefallen.“ Die jungen Männer könnten allerdings wegen übler Nachrede belangt werden. | Bild: Markus Bauer

Gruppe Jugendlicher verprügelt mutmaßlichen Pädophilen

Anders verhält es sich bei einer Gruppe von 14- bis 16-Jährigen, die ebenfalls im Thurgau aktiv wurde – sie setzte auf Gewalt. Doch belangt wurden sie bislang nicht. „Uns sind keine weiteren Fälle aus den vergangenen zwei Jahren bekannt“, sagt Gräflein – somit auch nicht die bereits tätige Jugendbande. Eine Jugendtreff-Leiterin, die durch ihre Arbeit regen Kontakt zur entsprechenden Gruppe pflegt, weiß mehr.

„Etwa sechs Jugendliche haben einen Kreis um einen Pädophilen gebildet und ihn dann verprügelt“, sagt Jugendarbeiterin Melanie Müller (Name geändert). Sie habe einen guten Draht zu den Jugendlichen, die jeweils freitags in den Treff kämen. „Ich habe gleich gemerkt, dass etwas nicht stimmt“, sagt sie über einen Freitag im September des vergangenen Jahres. „Sie tuschelten und wirkten extrem nervös“, so die Jugendarbeiterin. Als sie nachgehakt habe, hätten die Jungs schließlich ausgepackt.

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Die Kollegen seien gerade auf einer Mission, würden sie stets via Snapchat mit Bildern und Videos auf dem Laufenden halten. Nach der Tat zeigten sie Müller ein Video. „Man hat nichts von der Gewalttat gesehen, aber die Jungs standen um den Mann und trugen Skimasken. Es sah so aus, als hätten einige etwas Knüppelartiges in der Hand.“ Was es genau war, weiß die Thurgauer Jugendtreff-Leiterin nicht, aber die Jugendlichen hätten betont, dass sie gut ausgerüstet gewesen seien.

Gegenüber dem Mann habe sich die Gruppe online als 14-jähriger Bub ausgegeben und ein Treffen im Wald vereinbart. „Das war mega gefährlich“, sagt Müller über die Aktion der Bande. Nach der Tat sei der Mann im Auto weggefahren, dessen Inneres von der Gruppe mit Ketchup und Sardellen beschmutzt worden war. „Ich habe die Aktion der Jugendpolizei gemeldet“, sagt die Jugendarbeiterin. Ihre Schützlinge habe sie nicht verraten, aber das Snapchat-Profil des vermeintlichen Pädophilen habe sie weitergeleitet. „Wie es für den Mann ausgegangen ist, weiß ich nicht“, fügt sie hinzu.

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Kriminologe warnt vor Selbstjustiz und Nachahmern

Dirk Baier ist Kriminologe und ihm ist das Phänomen des Pedo-Huntings bekannt: „Es gibt vereinzelt solche Vorfälle beziehungsweise Gruppen. Man sollte aber vorsichtig sein, hier einen Trend zu postulieren“, schreibt er. Weil man noch vor fünf oder zehn Jahren kaum davon gehört habe, könne man aber von einer Tendenz sprechen, weil es aktuell mehr Fälle seien.

Aber auch die Einzelfälle seien problematisch. Die Personen würden sich damit selbst in Gefahr bringen. Es könne daneben auch der Eindruck erweckt werden, als würde die Polizei diesbezüglich zu wenig unternehmen – „was natürlich falsch ist“, schreibt Baier. Ein weiteres Risiko bestehe darin, dass andere zu Nachahmungstaten animiert werden könnten.

Dirk Baier, Kriminologe an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, warnt Jugendliche vor Selbstjustiz: „Dass sie sich ...
Dirk Baier, Kriminologe an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, warnt Jugendliche vor Selbstjustiz: „Dass sie sich dabei strafbar machen können, blenden sie aus.“ | Bild: Tatjana Burger

Fakt ist: Im Netz und auf Social Media kursieren Dutzende Videos von Pedo-Huntern. Je nach Algorithmus werden sie auch beeinflussbaren Jugendlichen angezeigt. „Dass sie sich dabei strafbar machen können, blenden sie aus“, schreibt der Kriminologe. Allerdings seien aus anderen Ländern auch Fälle von Männern im mittleren Alter bekannt, die Selbstjustiz ausüben.

Carina Majer ist Reporterin unserer Partnerzeitung, der „Thurgauer Zeitung“.