Die Kulturschaffenden, die Opern- und Konzerthäuser, Orchester und Chöre und nicht zuletzt die große Schar der Freischaffenden hatten in den zurückliegenden Wochen und Monaten diesen Tag herbeigesehnt: ein Livekonzert vor Zuhörern! Das zermürbende Wechselspiel zwischen Planen und Verwerfen, zwischen Ankündigen und Absagen war nun zu einem vorläufigem Ende gelangt.
Und doch war die Anspannung bei allen Beteiligten spürbar. Die vorwiegend älteren Besucher schienen noch die Coolsten zu sein, die sich offenbar weder am frühen Beginn des Konzerts (18 Uhr) störten, noch an der Programmänderung, noch an dem Umstand, das Konzert maskiert genießen zu müssen.
Die mit den Einlassprocedere beschäftigten Damen der Philharmonie hatten da schon einen höheren Adrenalinspiegel, beispielsweise wenn sie einer Besucherin klarmachen mussten, dass die zweite Impfung noch nicht bestätigt war. Intendantin Insa Pijanka sprach zu Beginn des Konzerts von der Freude, „endlich wieder vor Publikum spielen zu können“, ließ aber auch die Mühen der Coronazeit Revue passieren. Die größte Anspannung schien sich bei den Musikern und ihrem Chefdirigenten Ari Rasilainen angesammelt zu haben, die sich nicht gleich, aber dann später bei der Mozart-Sinfonie ungehemmt entladen sollte.

Das Konzert selbst begann mit einem kleinen Appetithäppchen, einem sehr kurzen Stück von Jean Sibelius aus der Sammlung „Kuolema“ (deutsch: Der Tod). Es wurde als „Szene der Kraniche“ zusammen mit dem später erheblich bekannteren „Valse triste“ veröffentlicht und fristet seitdem ein Dornröschendasein.
Ein sanglicher Beginn der Streicher, ein wenig an Richard Wagner erinnernd, versetzt den Hörer in eine gefühlvolle Grundstimmung, bevor er die letzten intensiven Angstschreie der Kraniche (Klarinetten) vernimmt, von den Streichern dramatisch illustriert, danach musikalisch-verträumte Blicke in die stiller werdende Natur mit leichtem Flügelschlagen (Solovioline), eine Art Schwanengesang im Zeitraffer. Die Philharmonie zeigte, dass sie noch und wieder wunderbar musizieren kann, auch wenn die Abstände zwischen den Musikerpulten immer noch riesig groß erscheinen.
Eldar Saparayev springt ein
Für den wegen Corona-Quarantäne-Problemen verhinderten norwegischen Violinsolisten war kurzfristig der Solocellist der Philharmonie, Eldar Saparayev, eingesprungen, die Überraschung des Abends! Zunächst spielte er – sozusagen als „Warmup“ – die Nocturne op.19 von Tschaikowsky, ein echtes Kleinod der romantischen Cello-Literatur. Von den Streichern in seinem Rücken getragen, sang Saparayev die Linien aus, öffnete dem Klang Nuancen und ließ dem Stück seinen entspannt fließenden Charakter.
Von einer ganz anderen Seite zeigte er sich in den nachfolgenden „Rokoko-Variationen“, die Tschaikowsky als großer Verehrer der Klassik und insbesondere von Mozart zwischen 1876 und 1877 komponiert hatte. Hier sprang der Solist in die Rolle des Magiers und des Clowns, der mit virtuosem Spiel, sprechenden Gesten und kleinen verschmitzten Späßen seine mitmusizierenden Kollegen und die Konzertgäste bestens unterhielt.
Das wunderbare volksliedhafte Thema des Konzerts beseelte den großen Konzilssaal im Nu, jetzt fühlte man sich im philharmonischen Kontext heimisch. In den Variationen erwies sich Saparayev als souveräner Techniker, aber auch als musikalischer Animateur, der mit großen Gesten den Dialog mit dem Orchester suchte und belebte, dann wieder ganz kammermusikalisch zurücksetzte und schmerzlich-schön Stellen auskostete.
Brillant und ausgefeilt
Das Orchester unter Ari Rasilainen ging sorgfältig mit und gestaltete Steigerungen hier so, dass sie genau zum Punkt führten, das Ziel nicht zu früh erreichten. Bisweilen hätte man sich manches etwas delikater, französischer gewünscht, und manchmal hätte Saparayev auch etwas mehr Zeit gehabt, den wunderbaren Klang seines Instruments zur Geltung zu bringen. Dagegen war die Kadenz brillant und mit ausgefeilter Dramaturgie versehen.
Wer nun erwartet hatte, nach den romantischen Wechselbädern würde mit Mozarts Musik die klassische Ausgewogenheit Einzug halten, sah sich bald enttäuscht.
Rasilainen begann Mozarts „Jupitersinfonie“ stürmisch, man könnte auch sagen unbeherrscht und überstürzt, und es verwunderte nicht, dass die Vorschläge im ersten Thema gleich gehörig verrutschten. Was sollte das werden? Ein verspäteter Beitrag zum Beethovenjahr? Oder sollte es eine Triumphmusik über Corona sein? Das ungezügelte Temperament mit einem stets forciertem Tempo tat dem Stück jedenfalls nicht gut.
Der zweite Satz mit der eigentlich wunderbar gelösten „Zauberflöten-Aura“ fiel komplett dem Stress zum Opfer, die anmutigen Girlanden konnten keinen Charme entfalten, sondern erinnerten an Etüden, und dreischrittige Steigerungen waren schon am Ende der ersten Phrase am Höhepunkt angelangt. Auch das Finale gestaltete Rasilainen eher als sportliches als ein geistiges Vergnügen, und man merkte, dass die permanente Dominanz von forte-Klang und schnellem Tempo ganz schön ermüdend werden kann.
Lediglich der dritte Satz, das schwungvolle Menuett mit dem leicht komödiantischen Trio, konnte überzeugen. Hier war alles im Lot in flottem Tempo und mit Liebe zum Detail. Hier gelang auch die Abstimmung zwischen der vertikalen Kraft und der rhythmischen Energie einerseits und der horizontalen Kraft der melodischen Entfaltung, ein Lichtblick!
Großer und langanhaltender Beifall des Publikums für das erste Livekonzert nach langer Zeit aus einem locker gestuhlten Konzilssaal, der gut besetzt, aber nicht ausverkauft war. Zu kurzfristig wurde ein erhöhtes Zuhörerkontingent erlaubt..
Konzerte nach Corona: Wie geht das weiter?
Der Neustart für Livekonzerte ist sehr zu begrüßen, auch wenn die Veranstalter einen Berg von Vorschriften beachten müssen und alle Hände voll zu tun haben, um diese Erlebnisse zu organisieren. Auch für die Musiker ist die Belastung mit insgesamt sechs Konzerten statt drei enorm. Die Südwestdeutsche Philharmonie hat es geschafft. Dazu kann man nur gratulieren! Doch zum wieder gestarteten Konzertbetrieb stellen sich etliche Fragen:
- Die Masken: Im privaten Rahmen dürfen sich derzeit bei niedriger Inzidenz Menschen aus drei verschiedenen Haushalten privat treffen, auch drinnen, in den Public-Viewing-Biergärten sitzen Menschen mehrere Stunden an einem Tisch zusammen, ohne Maske. So weit, so gut. Aber warum müssen Konzertbesucher, die alle genesen, vollständig geimpft oder gestestet sind und im Saal mit Abständen zueinander eine Stunde lang still zuhören, eigentlich Maske tragen?
- Die Länge: Welche Auswirkungen werden die Livestreams, Kurzkonzerte, Einakter von nur ca. 60 Minuten auf die Live-Kultur haben, die seit geraumer Zeit unter anderem wegen der Belüftungsvorschriften Standard sind? Könnte es sein, dass sich alle schnell daran gewöhnen?
- Das Repertoire: Werden Kantoren also künftig überhaupt noch die Matthäuspassion aufs Programm setzen oder Opernhäuser einer Wagner-Oper? Werden Orchester noch eine Mahler- oder Bruckner-Sinfonie wagen?