Singen Ruhig und ohne Eile ging das Team um Xianwei Zhu bei der sorgsamen Justierung der Belichtung vor, mit der die weiße, circa zwei Meter breite und sieben Meter lange Leinwand auf dem Boden in Szene gesetzt wurde – sowohl für das sich auf Stühlen um diese herum drängende Publikum als auch für einen Videomitschnitt der folgenden Live-Malerei.

Das ist in Anbetracht der Tatsache, dass solche Darbietungen oft einen liturgischen Zug haben, nicht ungewöhnlich. Allerdings sollte sich bald zeigen, dass dieser Zug im Falle des anwesenden Malers nicht der bloßen Inszenierung diente. Schließlich weist das Werk Zhus übergeordnet schlüssige metaphysisch-philosophische bis religiöse Bezüge auf, die mit einem in seiner Ernsthaftigkeit etwas überzogenen Kunst- und Artisten-Kult ebenso wenig zu tun haben wie mit zusammengewürfelter Lifestyle-Spiritualität.

Um welche Bezüge es sich handelt, darüber klärte Museumsleiter Christoph Bauer die Gäste im Beisein von Helena Vayhinger auf, welcher der Besuch des ebenfalls hinzugetretenen Stuttgarter Malers im Kunstmuseum Singen zu verdanken war. Derzeit sind einige Gemälde des Künstlers Zhus in ihrer Galerie ausgestellt und zum Erwerb angeboten.

Den gedanklichen Überbau des Werkes bilde der Versuch einer Verbindung „traditioneller chinesischer Malerei mit jener der deutschen Romantik“ sowie dahinter liegender und verwandter Weltdeutungskonzepte und Gedankenfiguren. Auf der einen Seite sind dies für Zhu der Daoismus und der Zen-Buddhismus, auf der anderen Seite die Schriften Hölderlins oder Heideggers, wobei Letzterer als Philosoph des 20. Jahrhunderts zwar nicht der Epoche der Romantik angehörte, jedoch stark von dieser beeinflusst war. Überschneidungen und Anknüpfungspunkte gibt es tatsächlich einige: So erfährt etwa der große Technikkritiker Heidegger seit Jahrzehnten eine starke Rezeption in Japan und China. Das liegt nicht nur daran, dass Heidegger sich selbst aktiv für einen geistigen „Dialog“ mit dem „fernen Osten“ einsetzte. Gerade was die Frage nach der Rolle des Subjekts in der naturhaften Welt betrifft, gibt es starke Ähnlichkeiten zwischen seinen Überlegungen sowie den Ideen und Vorstellungen, die innerhalb des Daoismus und des Zen schon in der Dichtung und in der Landschaftsmalerei der Romantik aufgeflackert sind. So lässt sich aus besagten ostasiatischen Philosophien beziehungsweise Religionen eine Kritik an der Trennung zwischen dem denkenden Individuum und seiner Umgebung ableiten, die auch Heidegger vornimmt, der gleichsam zu einem gelassenen „In-der-Welt-Sein“ rät, das der Empfehlung des „Nicht-Denkens“ (mushin) im Zen-Buddhismus nahesteht.

Alles ist Teil eines fließenden Ganzen

Das Gefühl, es bei der Natur mit einer gewachsenen, wachsenden sowie einzelne Ausprägungen ihrer selbst wieder in sich auflösenden Einheit zu tun zu haben, beschlich auch schon die Maler der Romantik, zu deren liebsten Beschäftigungen die Landschaftsmalerei gehörte. Oft schwingt in ihren Bildern ein Schauer mit, in Anbetracht der „erhabenen“ Natur, was auch mit dem zu ihrer Zeit zunehmenden In-Frage-Stellen christlicher Jenseitsvorstellung zu tun hat. Schließlich, so dämmerte es ihnen, ist vielleicht nicht nur der menschliche Körper, sondern auch das Bewusstsein nicht mehr als eine Ausprägung jenes zusammenhängenden Ganzen und zur Auflösung in diesem verdammt. Doch wenngleich die bedrohliche Dimension dieser Auflösung des „Ichs“ in der romantischen Landschaftsmalerei oft mitschwingt, erfährt sie hier bereits eine positive Deutung: Die Schönheit und Mächtigkeit der Landschaft lässt die eigenen Sorgen klein erscheinen und man ist, war und bleibt stets Teil eben jenes fließenden Ganzen. Ein Motiv, das sich auch in der chinesischen und japanischen Landschaftsmalerei findet.

Die Gedichte vom kalten Berg

Doch genug der Hintergründe: Ganz im Sinne des Heideggerschen In-der-Welt-Seins und des mushin (Nicht Denken) begann Zhu nach einer freundlichen und knappen Begrüßung mit der Vorführung. Vor die an den Rändern mit Ästen beschwerte Leinwand tretend, rezitierte er – wie im Zwiegespräch mit dieser – ein chinesisches Gedicht. Parallel dazu erklangen Melodien einer Bambusflöte. Mit einem dicken Pinsel setzte er erste schwarze Linien und es dauerte nicht lange, bis eine musikalisch untermalte Atmosphäre der Ruhe einkehrte. Der Geruch der Farbe stieg in die Luft. Bald verteilte Zhu Erde oder ein ähnlich poröses Material auf der Leinwand, ehe er damit begann, mit Kohlestücken feinere Linien aufzutragen, wobei er bisweilen prüfend zurücktrat, um sich angesichts der großen Fläche Übersicht zu verschaffen. Etwa zehn Minuten arbeitete Zhu an der abstrakt-gegenständlichen Basis aus Schwarz-, Braun- und Grautönen, ehe er ein Zeichen an Christoph Bauer gab, der nun ein Gedicht auf Deutsch vorlas, während Zhu weitermalte.

Nach und nach kamen neue Farben ins Spiel: Ocker, ein leuchtendes Rot und dunkles Blau. Mit einem Ast ritzte Zhu Linien in die dicken Farbschichten und führt sie ins Weiß der Leinwand. Manchmal murmelt er leise in Richtung der zunehmend dicht bemalten Leinwand und ergänzte am oberen Rand und in der Mitte des Bildes kleine Textfragmente – teils in chinesischer Schrift, teils auf Englisch oder Deutsch. Es folgte das abschließende Gedicht, in dem es heißt: „Reines Quellwasser, stilles Wissen. Betrachtung der Leere – noch stiller die Welt. Auf dem kalten Weg finden alle Sorgen ein Ende, keine wirren Gedanken bedrängen einen.“ Dieses Mal erfuhr das Publikum den Namen des Dichters, von dem auch die zuvor rezitierten Texte stammen. Sie gehören zu den „Gedichten vom Kalten Berg“ des Dichters Han-Shan, ein daoistischer und Zen-buddhistischer Eremit, der im 8. oder 9. Jahrhundert einen nach ihm benannten Berg bewohnte, in dessen Nähe Xianwei Zhu aufwuchs.

„Oben“, erklärte der Maler, „sehen Sie die Züge des Hohentwiels, der für mich eine besondere Bedeutung hat“. Er betonte die Ähnlichkeit zwischen diesem und dem Hausberg seiner Kindheit und Jugend, auf welchem die Gedichte Han-Shans entstanden sind. Überhaupt hatten die schroffen Formen des Bildes einen geologischen Charakter, während die gedeckten Farben an jene erinnerten, die den Hohentwiel an den vielen schneelosen Wintertagen bestimmen. Auch er ist von Spätherbst bis in den März ein „kalter Berg“ und erinnert zu dieser Jahreszeit besonders an die Vergänglichkeit des Subjektiven – und vielleicht auch an den Urgrund eines übergeordneten, einheitlichen Seins.

Im Anschluss konnten die Besucher den Maler sowie Helena Vayhinger in den Stadtgarten begleiten, wo eine Landschaftsserie Zhus auf großen Leinwänden zu bestaunen ist. Dieser Anblick lohnt insbesondere dann, wenn man zuvor einige Klassiker der romantischen Landschaftsmalerei betrachtet hat, etwa die Gemälde Caspar David Friedrichs und dazu vielleicht den Wikipedia-Artikel über chinesische Kunst liest. Nicht nur wegen des interkulturellen Ansatzes sind Xianwei Zhus Werke spannend. Vielleicht ist es in den gegenwärtig doch recht turbulenten Zeiten heilsam, Kraft nicht nur in der Natur zu suchen, sondern auch in den Impressionen einer reflektierten Landschaftsmalerei – und diese Eindrücke beim nächsten Spaziergang zwischen den Hegaubergen mitzunehmen.