18.50 Uhr: Ein echtes Novum

„Es könnte eine Form von digitaler Premiere sein“, meint Marian Schreier. Ob es unter den anderen 11 000 Gemeinden Deutschlands nicht eine gibt, die bereits das getan hat, was er heute vor hat? Der Tengener Bürgermeister möchte sich nicht festnageln lassen – es sei ihm zumindest nichts zu Ohren gekommen, sagt er.

40 Tengener schauen jetzt schon zu, während er das erzählt. Das Premierenpublikum der ersten digitalen Bürgerversammlung richtet sich vor den Bildschirmen ein – einigen kann man dabei sogar zuhören. „Der Ton ist noch etwas unruhig“, sagt Schreier. Das sei vor Beginn einer normalen Versammlung nicht anders. Um allen eine gute Tonqualität zu ermöglichen, würden nun aber die Mikrofone stumm geschaltet.

19.10 Uhr: Vor dem Anpfiff

Gleich soll es richtig losgehen. „Ein bisschen fühle ich mich wie die altgedienten Profis, die vor Fußballübertragungen interviewt werden“, sagt Wolfgang Himmel und lacht. Der Vergleich passt. Himmels Beratungsunternehmen Translake macht nicht nur die Live-Schaltung möglich: Er hilft auch mit, die Zeit bis zum eigentlichen Start zu überbrücken.

Bild 1: Eine historische Bürgerversammlung: 120 Teilnehmer sind bei der Digitalpremiere in Tengen dabei
Bild: Stadt Tengen

Während sich immer mehr Tengener online zuschalten, stimmt Himmel sie auf das ein, was in der kommenden Stunde passieren soll: Marian Schreier werde einen Vortrag halten, danach bestehe die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Während Himmel das erklärt, muss er kurz einschreiten: Ein Teilnehmer hat sich im Eifer des Gefechts verklickt und taucht plötzlich groß im Bild auf.

Überhaupt scheinen vereinzelte Zuschauer nicht zu bemerken, dass ihre Laptopkameras eingeschaltet sind. Ein Mann streckt sich ausgiebig und läuft im Zimmer umher. Ein anderer ist so nahe an der eigenen Kamera, dass nur seine konzentriert gerunzelte Stirn zu sehen ist.

19.15 Uhr: Es ist soweit

110 Zuschauer verfolgen an Handys und Computern Schreiers Begrüßung. „Ende März wäre der städtische Bürgerempfang gewesen, beim dem ich Sie über aktuelle Themen informiert hätte“, schildert er. Aufgrund der Corona-Krise habe die Stadt die Veranstaltung absagen müssen. „Aber das Informationsbedürfnis ist heute genauso groß wie vor Corona„, erklärt der Bürgermeister seinen ungewöhnlichen Weg der Kontaktaufnahme.

„Wir können Sie zwar anschließend nicht auf ein Glas Wein einladen.“ Dafür habe die Digital-Versammlung den Vorteil, dass man ihm auch mal den Ton abdrehen könnte, wenn man keine Lust mehr hat, scherzt Schreier.

19.35 Uhr: Rück- und Vorschau

Zwischenfazit nach 20 Minuten: Die Technik funktioniert tadellos. Marian Schreier hat zunächst den Bürgerentscheid zum Thema Windkraft Revue passieren lassen und dann einen Blick voraus gewagt (siehe untenstehendes Erklärstück).

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Auch beim nächsten Thema, der Zukunft des Schlosses Blumenfeld, klärt Schreier in sachlichem Tonfall auf. Er spricht frei, den Blick stets in die Kamera gerichtet. Wortwiederholungen oder das Wörtchen „ähm“ kommen bei dem rhetorisch begabten Bürgermeister nicht vor. Vermutlich wäre das bei einer normalen Bürgerversammlung nicht anders.

Ein Unterschied zum konventionellen Format: Wer sich am unteren Bildschirmrand durchklickt, sieht, dass eine kleine Minderheit der inzwischen knapp 120 Teilnehmer ihre Kameras weiterhin angeschaltet haben. Zum Beispiel ein Ehepaar, das sich gegenüber sitzt und gemütlich zu Abend isst.

19.50 Uhr: Was alle beschäftigt

Schreier hat nun auch die größten städtischen Bauvorhaben 2020, das Ärztehaus und daran angrenzend den neuen Bürgersaal, vorgestellt. Pausen nimmt der Bürgermeister höchstens für einen Schluck Wasser. Jetzt widmet er sich dem Thema, „das uns alle am meisten beschäftigt“: Corona.

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Schreier mahnt dazu, weiter die Vorgaben einzuhalten und hält zwischendurch eine Schutzmaske in Richtung der Kamera. Im Rathaus habe eine Mitarbeiterin für die Kollegen genäht, erklärt er dankbar. Daraufhin ploppt eine Frage im Chatfenster am Bildschirmrand auf: „Wo kann man in Tengen Masken kaufen?“ Schreier verspricht Infos zu sammeln und diese auf der städtischen Homepage zu veröffentlichen.

19.52 Uhr: Schlechte Chancen für Schätzelemarkt

Eine weitere Frage, die den Tengenern unter den Nägeln brennt: „Findet der Schätzelemarkt dieses Jahr statt?“ Schreier berichtet, dass die Bürgermeister im Hegau eine gemeinsame Entscheidung fällen wollen, was die Volksfeste im Herbst betrifft.

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Tendenziell sehe es für den Schätzelemarkt aber schwierig aus, gibt er zu. Schreier verweist darauf, dass an guten Abenden rund 2000 Menschen dicht gedrängt im Festzelt beieinander sitzen – in Corona-Zeiten nur schwer vorstellbar

20.10 Uhr: Teenager melden sich über Instagram

Passenderweise über die Bilder-App Instagram erreicht Schreier eine Frage, die eher die jüngeren Tengener beschäftigt. Wann der Jugendtreff wieder öffnet, kann der Bürgermeister aber noch nicht genau sagen.

20.15 Uhr: Lob für das Format

Die Fragen sind abgearbeitet. Punktlandung. Im Chatfenster ist Lob zu lesen: „Danke, es war sehr gut“, steht da zum Beispiel. Und sogar: „Grüße aus Berlin„. Ob er erledigt sei, will Wolfgang Himmel von Schreier wissen: „Nee, das ist Teil des Berufsbilds“, antwortet der und lacht. Außerdem sei es für ihn ja die erste Abendveranstaltung seit Wochen gewesen, meint der Bürgermeister.

Das Format habe ihm aber gefallen, er könne sich eine Wiederholung sehr gut vorstellen. Von den 110 Menschen, die immer noch zuschauen, verabschiedet sich Marian Schreier mit einem letzten Blick in die Kamera: „Bleiben Sie gesund. Auf Wiedersehen und einen schönen Abend.“

Diese Themen beschäftigen Tengen

  • Windkraft: Die Stadt befindet sich in den letzten Zügen der Verhandlungen mit Solarcomplex, parallel werden bereits Windmessungen durchgeführt. „Es wird mehrere Gutachten geben“, erklärt Marian Schreier – beispielsweise dazu, wie sich die geplanten Anlagen auf den Rotmilan auswirken. Spätestens Anfang nächsten Jahres sollen die für das Genehmigungsverfahren nötigen Infos zusammengetragen sein.
  • Schloss: „Wir wollen, dass wieder Leben ins Schloss Blumenfeld einkehrt“, betont Schreier. Deshalb möchte die Stadt das Gebäude verkaufen. Bisherige Versuche, Käufer über einen Makler zu finden, seien gescheitert. Jetzt sei das Ziel, Teams aus Architekten und Investoren zu gewinnen. Der Mindestkaufpreis für das Schloss: 750.000 Euro.
  • Ärztehaus: „Voraussichtlich am 4. Mai werden wir mit dem Bau beginnen“, berichtet Schreier. Die Verwaltung rechne mit einem Jahr Bauzeit und Kosten von 3,2 Millionen. Der zweite Baustein für die neue Ortsmitte ist der neue Bürgersaal. Hier sei das Ziel, Ende 2020 eine Baugenehmigung zu erhalten.
  • Corona: „Wir hatten drei bestätigte Fälle“, sagt der Bürgermeister. „Alle sind Gott sei dank wieder genesen.“ 15 Kontaktpersonen seien zwischenzeitlich zuhause geblieben. „Bei den meisten konnte die Quarantäne beendet werden.“ Damit es nicht zu einer zweiten Ansteckungswelle kommt, sei auch in Tengen weiter Vorsicht geboten.