15. August 2021. Das Datum hat sich Amir Ahmad ins Gedächtnis gebrannt.

15. August 2021, als die Taliban in Afghanistan die Macht an sich rissen. 15. August 2021, seit er Nacht um Nacht aufwachte „und nicht mehr schlafen konnte“, wie er sagt.

Seit das Leben seiner Familie in Kabul Gefahr war. Während er 6700 Kilometer weit entfernt, im behüteten Villingen-Schwenningen saß und wusste: „Ich muss etwas tun. Ich muss.“

Ahmad lebt seit 16 Jahren in Deutschland. Seit er für ein BWL-Studium nach Schwenningen kam. Doch: Weil andere Verwandte noch immer um ihr Leben fürchten, erzählt er seine Geschichte nicht unter seinem echten Namen. „Das ist einfach zu gefährlich. Überall in Europa sind Taliban-Sympathisanten, die unsere Geschichte weiterleiten könnten.“

Es wäre gefährlich, für die Angehörigen in Afghanistan, wenn sich herumspricht, dass Teile der Familie in Deutschland sind.

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Und es ist von Deutschland aus gar nicht so einfach, sich über Geschehnisse in einem Tausende Kilometer entfernten Staat wirklich ein Urteil zu bilden. Klar ist: Mit dem Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan hat die Terrormilz der Taliban die Macht übernommen. Und klar ist: Seitdem hat sich die humanitäre Lage im Land verschärft.

Amir Ahmad (Name geändert) hat seine Familie aus Afghanistan in den Schwarzwald-Baar-Kreis nachgeholt. Er selbst lebt schon seit ...
Amir Ahmad (Name geändert) hat seine Familie aus Afghanistan in den Schwarzwald-Baar-Kreis nachgeholt. Er selbst lebt schon seit Jahrzehnten in VS. | Bild: Daniela Biehl

Während die Taliban institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anpassen, wird der Alltag rauer.

Es kommt zu öffentlichen Auspeitschungen, Rachemorden und Hinrichtungen. Besonders gefährdet sind jene, die sich für Menschenrechte einsetzen. „So wurden Hunderte Leichen mit Schusswunden oder Folterspuren gefunden, die auf außergerichtliche Hinrichtungen hindeuten“, schreibt Amnesty International im August 2022.

Junge Taliban-Kämpfer patrouillieren auf der Ladefläche eines Pick-Ups in den Straßen von Kabul. (Symbolbild)
Junge Taliban-Kämpfer patrouillieren auf der Ladefläche eines Pick-Ups in den Straßen von Kabul. (Symbolbild) | Bild: Oliver Weiken

Auch Ahmads Familie rechnete täglich mit dem Schlimmsten. Täglich mit dem Tod. „Die Taliban haben ihr Haus durchsucht. Alles verwüstet“, sagt Ahmad. „Dann haben sie eine Gitarre, nur eine unscheinbare Gitarre, meiner Schwester gefunden, sich aufgeplustert und die Familie schikaniert. Wegen der Gitarre. Denn: Musik ist unter den Taliban nicht erlaubt.“

Weil sich Teile der Familie besonders aktiv für Menschenrechte einsetzten – „Mein Bruder ist Arzt und hat Frauenhäuser betreut. Mein Vater hat in der alten Regierung im Ministerium für Frauen gearbeitet“ – und weil das in Kabul bekannt war, sei seine Familie ständig in Angst gewesen.

Leben wie im Gefängnis

„Sie lebten eigentlich wie in einem Gefängnis“, sagt Ahmad. „Sie haben das Haus aus Angst nicht mehr verlassen. Und jedes Mal, wenn ich angerufen habe, haben sie nur sagt: ‚Irgendwann sterben wir hier. Wahrscheinlich nicht einmal, weil die Taliban uns umbringen, sondern weil wir die Lage psychisch nicht mehr ertragen.‘ “

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Die Taliban haben Frauen auch jegliches Recht auf Bildung genommen. Mehr als eine Grundschule dürfen sie nicht mehr besuchen.

Die Situation der Frauen in Afghanistan

Und ohne männliche Begleiter dürfen kaum noch etwas. Längere Autofahrten ohne Männer sind laut Amnesty International für Frauen etwa verboten.

„Du gehörst hier nicht hin“

„Manches war schon vor den Taliban herausfordernd. Für uns Frauen“, erinnert sich Hila (Name geändert), Amir Ahmads 20-jährige Schwester, die in Kabul Ingenieurwissenschaften studiert hat.

Sei sie zur Uni gegangen, hätten sie alle angestarrt und ihr ins Gesicht gesagt: „Warum bist du hier? Du gehörst hier nicht hin.“

Ein Klassenzimmer, das früher für Mädchen genutzt wurde, steht in Afghanistan leer, seit die Taliban Mädchen den Besuch von Mittel- und ...
Ein Klassenzimmer, das früher für Mädchen genutzt wurde, steht in Afghanistan leer, seit die Taliban Mädchen den Besuch von Mittel- und Oberschulen untersagt haben. (Symbolbild) | Bild: Ebrahim Noroozi

Doch: Nach der Machtübernahme sei das unmöglich gewesen. „Du musstest dein Gesicht bedecken, wurdest verspottet und von den Jungs in der Uni separiert. Und du wusstest: Jetzt können sie dir alles antun.“ Irgendwann blieb Hila Ahmad wie der Rest ihrer Familie nur noch zu Hause. „Und ich habe gedacht: Mein Leben ist vorbei. Jetzt muss ich heiraten. Und Hausfrau werden.“

Ein Stück Freiheit

Die Freiheit? Begegnet ihr in Deutschland – seit Amir Ahmad erfolgreich den Familiennachzug beantragt hat – sie begegnet ihr hier irritierend oft. „Sie wissen gar nicht, was für ein Gefühl ist: zu sehen, dass hier in den Büros ein Großteil der Mitarbeiter weiblich sind. Dass auch ich hier eine Chance haben könnte“, sagt Hila.

Amir Ahmad (Name geändert) und Derya Türk-Nachbaur (links). Die SPD-Bundestagesabgeordnete half Ahmad, seine Familie nach Deutschland ...
Amir Ahmad (Name geändert) und Derya Türk-Nachbaur (links). Die SPD-Bundestagesabgeordnete half Ahmad, seine Familie nach Deutschland nachholen zu können. | Bild: Daniela Biehl

Doch bis dahin war es ein steiniger Weg. Der damit begann, dass sich Amir Ahmad an Bundestagsabgeordnete Derya Türk-Nachbaur (SPD) und die wiederum ans Auswärtige Amt wandte, um Ahmads Fall in Rollen zu bringen.

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„Wir haben dann eine Aufnahmezusage bekommen.“ Und während ein Teil der Familie, vor allem die Frauen, via Flugzeug floh – „weil die Taliban sie weniger stark kontrollieren“, so Amir Ahmad – sei sein Vater mit seiner Schwägerin und ihrem Baby September 2022 mitten in der Nacht über die afghanisch-pakistanische Grenze geflohen. Gemeinsam, um sich notfalls gegenseitig schützen zu können.

Tuningen ein Kulturschock

Hier angekommen sei eine kleine Kommune im Schwarzwald-Baar-Kreis für seine Familie ein Kulturschock gewesen. „Sie kommen aus Kabul, einer vier Millionen Einwohner Stadt, da ist es schwer für sie, hier Anschluss zu finden.“

Denn: Andere Afghanen in der Region kennen sie nicht. Auch Deutsch sprechen sie kaum. Das Interview mit Hila, Amirs Schwester, führt der SÜDKURIER deshalb auch auf Englisch.

Ein Leben in der Warteschlange

„Wir haben ja Amir“, sagt Hila. Ein einziger Kontakt in der neuen Heimat. Für Deutschkurse hat sich die Familie längst angemeldet. Doch: Weil sie überfüllt sind, stehen die Ahmads noch auf der Warteliste – und die reicht bis in den Herbst 2023 hinein.

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Ein Leben in der Warteschlage. So fühle sich das für seine Familie jetzt an, sagt Amir Ahmad. Während seinem Vater die Tränen kommen. „Er weint, weil mein Bruder noch in der Türkei festsitzt. Und weil ihm die Abschiebung zurück nach Afghanistan droht.“

Der Bruder – jener Arzt, der in Frauenhäusern arbeitete – war als einziger separat von der Familie, direkt nach der Machtergreifung der Taliban geflohen.